Träum weiter, Liebling
oft berührte, würde er sich an den Menschen gewöhnen und zu einem Haustier werden, was es noch schwieriger machte, ihn wieder in der freien Natur auszusetzen.
Gabe wollte sicher sein, dass Rachel genug Zeit hatte, den Jungen zu Bett zu bringen, also säuberte er das provisorische Vogelnest, indem er die alten Papiertücher beseitigte und es mit neuen auskleidete, um dann erst ins Wohnzimmer zu gehen. Durch die vordere Fliegengittertür sah er, dass sie auf der Verandastufe saß, die Arme auf die angewinkelten Knie gestützt. Er ging nach draußen.
Rachel hörte, wie die Gittertür aufging. Die Holzveranda bog sich unter seinen Schritten, als er zu ihr trat und sich dann neben sie setzte.
»Du hast nichts in Dwaynes Bibel gefunden, nicht wahr?«
Sie hatte die Enttäuschung noch immer nicht ganz überwunden. »Nein. Aber es sind jede Menge Stellen unterstrichen und überall handgeschriebene Randbemerkungen. Ich werd sie Seite für Seite durchgehen. Sicher gibt es irgendwo einen Hinweis.«
»Dir fällt aber auch gar nichts in den Schoß, stimmt‘s, Rach?«
Sie war müde und frustriert, und die Energie, die sie durch den Nachmittag getragen hatte, war verschwunden. Diese alten, vertrauten Verse wieder zu lesen, besaß etwas zutiefst Verstörendes. Sie fühlte, wie sie an ihrem Innern zerrten, als wollten sie sie zu etwas zurückziehen, das sie nicht länger akzeptieren konnte.
Ihre Augen fingen an zu brennen, aber sie kämpfte dagegen an. »Werd bloß nicht sentimental, Bonner. Ich werd mit allem fertig, bloß nicht damit.«
Er schlang den Arm um ihre Schultern und drückte sie kurz. »Okay, Schatz, dann werd ich eben auf dir rumprügeln, wenn dir das lieber ist.«
Schatz. Das hatte er heute schon zum zweiten Mal gesagt. War sie wirklich ein Schatz?
Sie lehnte sich an seine Schulter. Sie hatte sich in ihn verliebt. Sie hätte es gerne bestritten, aber so war es nun mal.
Was sie für ihn empfand, war so anders als ihre Gefühle für Dwayne, die aus einer ungesunden Mischung aus Heldenverehrung und dem Wunsch eines jungen Mädchens nach einem Vaterersatz bestanden hatten. Dies hier war jedoch eine reife Liebe, eine, in die sie mit offenen Augen ging.
Sie sah sowohl Gabes als auch ihre Schwächen. Und sie erkannte außerdem, wie gefährlich es wäre, von einer Zukunft mit einem Mann zu träumen, der noch immer in seine tote Frau verliebt war, und, was noch schlimmer war, der ihr Kind nicht ertragen konnte.
Die Feindseligkeit zwischen Gabe und Edward schien immer größer zu werden, und sie wusste nicht, was sie dagegen hätte tun können. Sie konnte Gabe schließlich nicht befehlen, seine Einstellung zu ändern und Edward zu mögen.
Sie war müde und niedergeschlagen. Er hatte recht. Ihr fiel wirklich nichts in den Schoß. »Versuch, nicht vor Edward zu fluchen, okay?«
»Es ist mir so rausgerutscht.« Er blickte zu der dunklen Baumreihe am anderen Ende der Wiese. »Weißt du, Rachel, er ist ein gutes Kind und so, aber vielleicht solltest du ihn ein wenig härter anfassen.«
»Ich werd ihn gleich morgen zum Kurs in Fluchen anmelden.«
»Ich will damit bloß sagen... Dieser Hase, den er die ganze Zeit mit sich rumschleppt, zum Beispiel. Er ist fünf Jahre alt. Die andern machen sich wahrscheinlich schon lustig über ihn.«
»Er sagt, er tut ihn in sein Schließfach, wenn er im Kindergarten ist.«
»Trotzdem. Er ist zu alt dafür.«
»Hat Jamie so was nicht gehabt?«
Er erstarrte, und da wusste sie, dass sie gefährlichen Boden betreten hatte. Er konnte zwar über seine Frau reden, aber nicht über seinen Sohn.
»Nicht, als er fünf war.«
»Nun, es tut mir leid, dass Edward nicht Macho genug für dich ist, aber die letzten Jahre haben ihm viel von seinem Widerspruchsgeist geraubt. Dass er im Frühling einen Monat lang im Krankenhaus liegen musste, hat auch nicht gerade geholfen.«
»Was war denn los?«
»Lungenentzündung.« Sie zeichnete die Naht am Saum ihres Kleids nach. Die Niedergeschlagenheit, die sie ergriffen hatte, seit ihr klar geworden war, dass die Bibel ihr Geheimnis nicht so leicht preisgeben würde, vertiefte sich noch. »Er hat ewig gebraucht, um sich davon zu erholen. Einmal glaubte ich sogar, er würd‘s nicht schaffen. Es war schrecklich.«
»Tut mir leid.«
Das Gespräch über Edward hatte eine Kluft zwischen ihnen geöffnet. Sie wusste, dass Gabe sie ebenso sehnlichst schließen wollte wie sie, als er sagte: »Komm, lass uns ins Bett gehen.«
Sie blickte in seine Augen,
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