Träum weiter, Liebling
Dillard im Vorratskämmerchen in der Sonntagsschule. Wir hatten beide Kirschlutscher geluscht, also war‘s in mehr als nur einer Hinsicht eine süße Angelegenheit.«
»Du hast seit deinem ersten Jahr in der Highschool keinen Zungenkuss mehr bekommen?«
»Ganz schön erbärmlich, nicht wahr? Ich hatte Angst, ich würde in die Hölle kommen. Das ist wenigstens ein Vorteil, den mir die letzten paar Jahre gebracht haben.«
»Wie meinst du das?«
»Ich mach mir keine Sorgen über die Hölle mehr. Irgendwie denke ich, dass ich schon dort gewesen bin und es nicht mehr viel schlimmer kommen kann.«
»Rachel...«
Er sah so bekümmert drein, dass sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen hätte. Ihre Einstellung mochte ihr helfen, sich die Angst vom Leib zu halten, aber ihn verstörte sie. »War ein schlechter Witz, Bonner. Du machst dich besser wieder an die Arbeit, bevor der Boss dich noch beim Rumlungern erwischt. Er ist ‘n richtiger Giftzahn, und wenn du nicht aufpasst, zieht er dir was vom Lohn ab. Ich persönlich hab ‘ne Heidenangst vor ihm.«
»Tatsächlich?«
»Der Mann kennt keine Gnade, ganz zu schweigen davon, dass er geizig ist. Glücklicherweise bin ich schlauer als er und weiß, wie ich ‘ne Beförderung kriege.«
»So, wie denn?« Er trank einen Schluck Kaffee. »Ich werde ihn splitternackt ausziehen und ihn überall ablecken.«
Sein Hustenanfall erfüllte sie mit einer Befriedigung, die sie durch den Rest des Nachmittags trug.
Edward kauerte neben ihm, die Hände auf die Knie gestützt, und blickte in die Schachtel. »Es is‘ noch nich‘ tot.«
Die pessimistische Haltung des Jungen ärgerte Gabe, aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, sondern stellte die Mischung aus Rinderhack, Eigelb und Babyflocken, mit denen er den kleinen Spatzen ernährte, in den Kühlschrank zurück. Edward hing schon den ganzen Abend über bei der Schachtel herum, um zu sehen, wie es dem Spatz ging, doch nun erhob er sich, stopfte seinen Plüschhasen mit dem Kopf voraus in den Elastikbund seiner Shorts und schlenderte ins Wohnzimmer.
Gabe streckte den Kopf durch den Türrahmen. »Lass deine Mutter noch ‘ne Weile in Ruhe, ja?«
»Ich will sie sehen.«
»Später.«
Der Junge zog den Hasen aus seinen Shorts, umklammerte ihn und bedachte Gabe mit einem hasserfüllten Blick.
Rachel hatte sich in ihrem Zimmer verkrochen, seit Kristy G. Dwaynes Bibel vorbeigebracht hatte. Falls sie etwas gefunden hätte, wäre die Türe mit einem Knall aufgesprungen, doch da das nicht geschehen war, wusste er, dass ihr eine neuerliche Enttäuschung bevorstand. Das mindeste, was er tun konnte, war, den Jungen so lange zu beschäftigen, bis sie fertig war.
Jetzt sah er, wie der Fünfjährige seine Anweisung ignorierte und versuchte, sich so unauffällig wie möglich zum hinteren Flur zu bewegen.
»Ich hab dich gebeten, deine Mutter in Ruhe zu lassen.«
»Sie hat gesagt, sie liest mir noch Stellaluna vor.«
Gabe wusste, was er hätte tun sollen. Er hätte das Buch nehmen und dem Jungen die Geschichte selber vorlesen sollen, aber das konnte er nicht. Er konnte es einfach nicht ertragen, den Jungen neben sich sitzen zu haben und ihm ausgerechnet dieses Buch vorzulesen.
Noch mal, Daddy. Lies mir Stellaluna noch mal vor, bitte.
»Das Buch handelt von ‘ner Fledermaus, stimmt‘s?«
Edward nickte. »Eine liebe Fledermaus, keine böse.«
»Dann lass uns nach draußen gehen und schauen, ob wir welche sehen.«
»Richtige Fledermäuse?«
»Klar.« Gabe ging voran und hielt die Gittertür auf. »Sie sollten inzwischen rausgekommen sein. Sie gehen immer nachts auf Futtersuche.«
»Is‘ schon okay. Ich hab hier was zu tun.«
»Nach draußen, Edward, sofort.«
Der Junge duckte sich widerwillig unter seinem Arm hindurch. »Ich heiß Chip. Und du sollst nich‘ rausgehen. Du sollst bei Tweety bleiben und aufpassen, dass es nich‘ stirbt.«
Gabe schluckte seine Gereiztheit hinunter und folgte dem Jungen nach draußen. »Ich kümmere mich schon um Vögel, seit ich kaum älter war als du, also werd ich wohl wissen, was ich tue.« Er zuckte innerlich zusammen, als er seinen barschen Ton hörte, und holte tief Luft, um es wieder ein wenig gutzumachen. »Als mein Bruder und ich noch kleiner waren, haben wir die ganze Zeit kleine Vögel gefunden, die aus ihren Nestern gefallen waren. Wir wussten damals nicht, dass man sie wieder in ihre Nester zurücksetzen muss, also haben wir sie mit nach Hause genommen. Manchmal sind sie
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