Träum weiter, Liebling
gestorben, aber manchmal haben wir sie auch retten können.«
Wie er sich erinnern konnte, war das Retten immer ihm überlassen geblieben. Cal hatte zwar die besten Absichten gehabt, doch dann war ihm immer ein Basketballspiel oder ein Softballspiel oder irgend etwas anderes dazwischengekommen, und er hatte vergessen, den Vogel zu füttern. Und Ethan war noch zu jung für eine solche Verantwortung gewesen.
»Du hast meiner Mommy gesagt, du bist Pastor Ethans Bruder.«
Gabe entging der anklagende Ton in Edwards Stimme nicht, aber er ließ sich davon nicht reizen. »Das ist richtig.«
»Du siehst nich‘ aus wie er.«
»Er sieht unserer Mutter ähnlich. Mein Bruder Cal und ich sehen unserem Vater ähnlich.«
»Du bist aber ganz anders.«
»Die Menschen sind eben unterschiedlich, selbst Brüder.« Er nahm einen der Holzliegestühle, die an der Rückwand des Häuschens lehnten, und entfaltete ihn.
Edward hackte mit der Ferse seines Turnschuhs in die weiche Erde, während er den Hasen in einer Hand hielt. »Mein Bruder is‘ wie ich.«
Gabe blickte ihn an. »Dein Bruder?«
Edward konzentrierte sich stirnrunzelnd auf seinen Turnschuh. »Er is‘ echt stark, und er kann ‘ne Million Leute verhauen. Er heißt... He-Man. Er wird nie krank, und er nennt mich immer Chip, nich‘ den andern Namen.«
»Ich glaub, du tust deiner Mutter weh, wenn du den Leuten sagst, sie sollen dich nicht Edward nennen«, entgegnete Gabe ruhig.
Das gefiel dem Jungen gar nicht, und Gabe beobachtete, wie eine Reihe von Emotionen über sein Gesicht liefen: Sorge, Unsicherheit, Sturheit. »Sie darf mich so nennen. Du nich‘.«
Gabe nahm den anderen Liegestuhl und klappte ihn ebenfalls auf. »Schau dorthin, zu diesem Bergkamm. Da oben gibt‘s ‘ne Höhle, in der jede Menge Fledermäuse leben. Vielleicht siehst du ein paar von ihnen.«
Edward setzte sich und stopfte den Plüschhasen neben sich. Seine Füße berührten den Boden nicht, und seine dünnen Beinchen ragten steif über die Liegestuhlkante. Gabe fühlte die Anspannung des Jungen, und es störte ihn, als eine Art Monster betrachtet zu werden.
Ein paar Minuten verrannen. Jamie, mit der Ungeduld eines Fünfjährigen, wäre schon nach dreißig Sekunden wieder aus dem Stuhl gesprungen, aber Rachels Sohn saß still da, zu ängstlich, um gegen Gabe zu rebellieren. Gabe hasste seine Angst, ohne jedoch in der Lage zu sein, etwas dagegen tun zu können.
Die Glühwürmchen kamen heraus, und der leise Abendwind legte sich. Der Junge regte sich nicht. Gabe überlegte, was er sagen könnte, doch schließlich war es der Junge, der sprach.
»Ich glaub, das is ‘ne Fledermaus.«
»Nein, das ist ein Falke.«
Der Junge zog den Hasen auf seinen Schoss und bohrte mit dem Zeigefinger in einem kleinen Loch in der Naht. »Meine Mommy wird sauer, wenn ich zu lang draußen bleib.«
»Pass auf die Bäume auf.«
Er stopfte sich den Hasen unter sein T-Shirt und lehnte sich im Stuhl zurück. Er quietschte. Er lehnte sich vor und wieder zurück, so dass es noch mal quietschte. Und dann noch mal.
»Halt still, Edward.«
»Ich heiß nicht Ed-«
»Chip, verdammt nach mal!«
Der Junge verschränkte die Arme über seinem ausgebeulten T-Shirt.
Gabe seufzte. »Tut mir leid.«
»Ich muss ganz dringend Pipi.«
Gabe gab auf. »Also gut.«
Der Liegestuhl kippte um, als der Junge wie der Blitz heraussprang.
Gerade in diesem Moment öffnete sich die Hintertür. »Schlafenszeit, Edward.«
Gabe drehte sich um und sah sie hinter der Gittertür im Schein des Lichts in der Küche stehen. Sie sah schlank und wunderschön aus, ganz sie selbst und auch wie Millionen von Müttern, die ihr Kind in einer warmen Julinacht hereinriefen.
Seine Gedanken wanderten zu Cherry, und er wartete darauf, dass ihn der Schmerz durchzuckte, doch alles, was er verspürte, war eine gewisse Melancholie. Vielleicht konnte er ja doch weiterleben, wenn er es schaffte, nicht mehr an Jamie zu denken.
Edward rannte zur Veranda und packte Rachel am Kleid, sobald er sie erreicht hatte. »Du hast doch gesagt, man soll nich‘ fluchen, oder, Mommy?«
»Das ist richtig. Fluchen ist unhöflich.«
Er funkelte Gabe an. »Er hat einen gesagt. Er hat geflucht.«
Gabe warf ihm einen verärgerten Blick zu. Kleiner Petzer.
Rachel schob ihn kommentarlos ins Haus.
Gabe fütterte noch mal den kleinen Spatzen, wobei er sich bemühte, ihn so wenig wie möglich zu berühren, während er ihm das Futter in kleinen Tropfen einflößte. Wenn man ihn zu
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