Träum weiter, Liebling
nur scheußliches Eis. Ich weiß, wo wir was richtig Gutes kriegen.«
Sie zog Edward fort und machte sich auf den Weg zurück zum Escort, wobei sie sich zwang, langsam zu gehen, damit es nicht aussah, als würde sie flüchten. Sie öffnete die Tür für Edward und beugte sich dann hinein, um ihm beim Schließen des Sicherheitsgurts zu helfen, doch ihre Hände zitterten so stark, dass es ihr kaum gelang.
Etwas strich ihr über die Schulter. Sie richtete sich auf und erblickte eine rundliche Frau um die Fünfzig mit leuchtend grünen Leggings und einer langen weißen Bluse. Sie hatte eine knallgrüne Papageienbrosche an der Bluse und ebensolche Holzohrringe an den Ohren. Ihr graumeliertes Haar war in viele kleine Löckchen gelegt. Sie hatte ein rundes Gesicht mit weichen Gesichtszügen und trug eine große Brille mit einem fleischfarbenen Gestell, das spitz zulief.
»Bitte, Mrs. Snopes, ich muss mit Ihnen reden.«
Rachel hatte Feindseligkeit erwartet, doch das Gesicht der Frau wirkte lediglich bekümmert. »Ich bin nicht mehr Mrs. Snopes.«
Die Frau schien sie kaum zu hören. »Sie müssen meine Enkelin heilen.«
Rachel war so geschockt, dass ihr die Sprache wegblieb.
»Bitte, Mrs. Snopes. Ihr Name ist Emily. Sie ist erst vier, doch sie hat Leukämie. Sechs Monate lang war es besser, aber jetzt...« Die Augen hinter den großen Brillengläser füllten sich mit Tränen. »Ich weiß nicht, was wir tun sollen, wenn wir sie verlieren.«
Dies hier war hundertmal schlimmer als der Alptraum am Eisschalter. »Ich - es tut mir leid wegen Ihrer Enkelin, aber ich kann leider nichts tun.«
»Legen Sie ihr einfach die Hände auf.«
»Ich bin keine Wunderheilerin.«
»Sie können es. Ich weiß, dass Sie‘s können. Ich hab Sie immer im Fernsehen gesehen, und mir ist es egal, was die anderen sagen. Ich weiß, dass Sie eine tiefgläubige Frau sind. Sie sind unsere letzte Hoffnung, Mrs. Snopes. Emily braucht ein Wunder.«
Rachel brach der Schweiß aus. Das Kleid klebte ihr am Oberkörper, und sie hatte das Gefühl, der Kragen würde sie erwürgen. »Ich - ich bin nicht der Mensch, der Wunder bewirken kann.«
Wenn die Frau sich feindselig verhalten hätte, wäre alles viel leichter zu ertragen gewesen. Aber die Verzweiflung in ihren Augen war schrecklich. »Das sind Sie! Doch, das sind Sie!«
»Bitte... es tut mir leid.« Sie machte sich los und eilte um den Wagen herum zur Fahrerseite.
»Dann beten Sie wenigstens für sie«, sagte die Frau mit einem verlorenen, hoffnungslosen Ausdruck auf dem Gesicht. »Beten Sie für unser kleines Mädchen.«
Rachel nickte abrupt. Wie konnte sie dieser Frau sagen, dass sie aufgehört hatte, zu beten, dass sie ihren Glauben verloren hatte?
Blindlings fuhr sie zum Heartache Mountain zurück. Ihr Magen fühlte sich wie ein harter Knoten an. Erinnerungen an Dwaynes Wunderheilershows stiegen in ihr auf. Sie musste an eine Frau denken, deren eines Bein länger gewesen war als das andere, und sie sah Dwayne vor sich, wie er vor ihr kniete und ihr längeres Bein am Schuh packte.
Im Namen des Herrn, Heile! Heile, sag ich!
Und jeder Zuschauer am Bildschirm sah, wie das Bein kürzer wurde.
Was sie nicht gesehen hatten, war die beinahe unmerkliche Bewegung, mit der Dwayne, als er niederkniete und ihr Bein nahm, ihren Schuh ein wenig von der Ferse zog, und als er dann Gott und den Himmel anrief, schob er ihn einfach wieder hoch. Für die Zuschauer sah es aus, als würde das Bein kürzer werden.
Rachel konnte sich noch genau an den Zeitpunkt erinnern, als aus ihrer Liebe zu Dwayne Verachtung wurde. Es geschah an dem Abend, als sie entdeckte, dass er während seiner Sendungen einen winzigen Kopfhöhrer im Ohr trug. Einer seiner Helfer saß immer hinter der Bühne und flüsterte ihm die unterschiedlichen Krankheiten und Leiden zu, die die Studiobesucher auf Kärtchen geschrieben hatten, die sie vor der Sendung ausfüllen mussten. Als Dwayne dann laut die Namen von Leuten ausrief, die er nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, sowie Einzelheiten über deren Krankheiten, die er unmöglich wissen konnte, verbreitete sich sein Ruhm als Wunderheiler in Windeseile im ganzen Land.
Dies war auch ans Ohr einer Frau mit grünen Papageienohrringen gedrungen, die aus irgendeinem Grund glaubte, Dwayne Snopes Witwe könnte ihre todkranke Enkelin wieder gesund machen.
Rachels Finger umkrampften das Lenkrad. Kurz zuvor hatte sie davon geträumt, wieder mit Gabe zu schlafen, doch nun hatte sie die Realität wie
Weitere Kostenlose Bücher