Träum weiter, Liebling
ein kalter Guß ernüchtert. Sie musste weg aus dieser Stadt, so schnell wie möglich, oder sie würde verrückt werden. Die Schatulle hatte nichts ergeben.
Sie musste unbedingt Dwaynes Bibel finden und beten, dass sie darin fand, was sie brauchte.
Nur, dass sie nicht länger betete.
Edwards leiser Seufzer riss sie aus ihren Gedanken. Sie fuhren soeben vor dem Häuschen vor, und ihr fiel schlagartig ein, dass sie Edward und das Eis völlig vergessen hatte. Zerknirscht blickte sie sich zu ihm um. »Ach Schatz, es tut mir leid, ich hab‘s vergessen.«
Er starrte geradeaus, ohne etwas zu sagen, ohne zu protestieren. Einmal mehr musste er akzeptieren, dass er im Leben immer wieder den kürzeren zog.
»Wir kehren wieder um.«
»Musst du nich. Ist schon okay.«
Aber es war nicht okay. Sie drehte um und fuhr direkt zum Supermarkt, wo sie ihm ein Eis am Stiel kaufte. Er warf das Papier in den Abfalleimer beim Eingang und leckte am Schokoladenüberzug. Dann machten sie sich auf den Rückweg zum Parkplatz, wo sie den Escort abgestellt hatte.
Als sie beim Auto ankam, sah sie, dass alle vier Reifen angestochen worden waren.
12
Rachel stand am nächsten Morgen schon vor sechs Uhr auf, obwohl sie die Nacht davor schlecht geschlafen hatte. Barfuß und in der üblichen Aufmachung, die sie zum Schlafen anzog, ihrem Slip und einem Männerhemd, das sie in ihrem Kleiderschrank gefunden hatte, ging sie in die Küche.
Während sie den Kaffee aufsetzte, bewunderte sie das buttergelbe Morgenlicht, das durch die Küchenfenster herein und auf den alten, verkratzten Eßtisch fiel. Draußen glitzerte die Wiese im Morgentau, und die Taglilien reckten ihre leuchtend orangefarbenen Trompeten der Sonne entgegen. Die rosa Blüten des Lorbeerbaums wirkten im satten Licht der Morgensonne verschwommen, fast wie eine alte Dame mit einer Federboa.
Nach den hässlichen Vorfällen von gestern Abend traten ihr die Tränen in die Augen angesichts der schlichten Schönheit ihrer Umgebung. Danke, Annie Glide, für dein zauberhaftes Häuschen.
Wenn sich doch an diesem zauberhaften Ort auch ihre Probleme auf wundersame Weise lösen könnten. Sie hatte kein Geld für neue Autoreifen und wusste nicht, wie sie es ohne den Wagen schaffen sollte. Zur Arbeit zu gelangen war kein Problem. Es war ein weiter Spaziergang, aber den konnte sie schaffen. Aber was war mit Edward? Gestern Abend war Kristy mit dem Auto gekommen, um sie abzuholen, und sie nahm ihn jeden Tag mit in die Kindertagesstätte und auch wieder zurück, doch schon bald mussten sie weg von hier, und was dann?
Sie musste die Bibel finden.
Doch der Morgen war zu schön, um ihn sich mit Sorgen zu verderben, noch dazu, wo sie später, während der Arbeit, mehr als genug Zeit zum Grübeln haben würde. Der Kaffee war fertig, und sie schenkte sich eine alte grüne Tontasse voll, auf der noch die Reste eines Peter-Rabbit-Bilds zu sehen waren. Dann ging sie zur Vorderseite des Hauses.
Das hier war für sie die schönste Zeit des Tages, bevor Edward wach wurde, wenn alles noch neu und frisch war. In dem alten, quietschenden Schaukelstuhl auf der Veranda zu sitzen und ihren Kaffee zu genießen, während der Rest der Welt noch in tiefem Schlaf lag, war ihr mehr wert, als all der Luxus ihres alten Lebens mit Dwayne. Am frühen Morgen konnte sie ihre neuen Träume träumen, die kleinen Träume. Ein bescheidener Hinterhof, wo Edward mit seinen Freunden spielen konnte, ein Gärtchen, vielleicht, und ein Hund. Sie wollte, dass er ein Haustier bekam.
Sie drehte sich zum Schaukelstuhl herum, und ihre Euphorie verpuffte. Die Tasse fiel scheppernd zu Boden, undheißer Kaffee spritzte ihr über die Beine, doch sie bemerkte es kaum. Alles, was sie sehen konnte, war dieses Wort, das jemand in grober roter Schrift auf die Vorderseite des Hauses, genau zwischen die Fenster, gemalt hatte.
Sünderin.
Kristy kam in ihrem langen, flatternden Baumwollnachthemd herausgeeilt. »Was ist los? Ich hab ein Scheppern - oh nein...«
»Diese Mistkerle«, zischte Rachel.
Kristy fuhr sich mit der Hand an die Kehle. »Es ist so hässlich. Wie kann jemand etwas so Häßliches tun?«
»Sie hassen mich und wollen mich loswerden.«
»Ich ruf Gabe an.«
»Nein!«
Aber Kristy war bereits ins Haus gerannt.
Der wunderschöne Morgen hatte sich in etwas Obszönesverwandelt. Rachel wischte den Kaffee mit einem alten Geschirrtuch auf, als ob es nichts Schlimmeres auf der Vorderveranda gab. Sie wollte gerade hineingehen, um sich
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