Träume in Kristall
noch gar nicht einmal so lange
her.«
»Aber warum hast du geschimpf?«
»Warum? Ja, ist es denn nicht eine üble Angewohnheit?« »Und was für ein Gefühl hattest du, Mutter – ? Wenn du sahst, wie ich an dem Mal herumspielte …?« »Nun ja –«, sagte Mutter und hielt den Kopf schief, »so was wirkt doch irgendwie unschicklich.«
»Ja schon, aber wie denn unschicklich? Machte ich auf dich den Eindruck eines bedauernswerten Kindes? Schien ich dir verdrießlich oder etwa verstockt …?« »Ach, so weit habe ich gar nicht darüber nachgedacht, weißt du? Ich hielt es einfach für besser, wenn du nicht mit einem so schläfrigen Gesicht an dem Mal herumspieltest.« »Also warst du wohl ärgerlich …?«
»Jedenfalls hattest du dann etwas an dir, als ob du mit deinen Gedanken ganz woanders wärst.«
»Als ich noch klein war, habt da nicht ihr, du und
meine Schwestern, immer wieder aus Spaß nach mei-
nem Mal geschnappt?«
»Das wird wohl so gewesen sein.«
Wenn es an dem war, konnte es dann nicht sein, daß ich, indem ich gedankenverloren an dem Muttermal herumspielte, mich der Liebe erinnerte, die mir in Kindertagen von Mutter und Schwestern zuteil geworden war?
Faßte ich also nicht deshalb an das Muttermal, um
mich lieber Menschen zu erinnern?
Ich meine, dies mußte ich dir sagen.
Du hast ja doch wohl meine Angewohnheit von Anfang an falsch gedeutet.
An wen anderes sollte ich gedacht haben, wenn ich, neben dir liegend, an dem Mal herumspielte?
Immer wieder muß ich jetzt denken, ob sich denn nicht in der seltsamen Haltung, die du an mir so sehr verabscheutest, eine Liebe zu dir ausdrückte, die ich nicht in Worte zu fassen vermochte.
Die Angewohnheit, ein Muttermal anzufassen, ist an sich recht unerheblich, sowenig ich sie auch jetzt entschuldigen will; aber war es nicht vielleicht so, daß alles, was mich zu einer schlechten Ehefrau gemacht, wie in dem Falle des Muttermals zunächst aus meiner Liebe zu dir entsprang und erst deshalb dazu beitrug, daß ich am Ende wirklich eine schlechte Ehefrau wurde, weil du mich dafür aus deiner falschen Sicht heraus zu schelten pflegtest?
Eine schlechte Ehefrau ist, wer launisch und ungerechtfertigt grollt; ich selber denke so, und bitte dich dennoch, mich anzuhören. (94o)
Von Vögeln und Tieren
Von Vogelgezwitscher zerbrach sein Tagtraum. Der Käfig, ein Rundkorb wie die auf der KabukiBühne noch üblichen, in denen man einst die Schwerverbrecher transportierte, allerdings zweioder dreimal so groß, stand auf einem schon klapprigen alten Lastwagen.
Versehentlich schien das Taxi, in dem der Mann saß, zwischen eine Autokolonne geraten, die zu einer Beisetzung unterwegs war. Der Wagen hinter ihnen trug, aufgeklebt auf die Scheibe vor dem Gesicht des Fahrers, das Nummernschild »23«. Der Mann sah sich zum Straßenrand um; eben befanden sie sich vor einem Zen-Tempel, an dem ein steinernes Mal verkündete: »Historische Stätte – Grab des Dazai Shundai«. Am Tor des Tempels hatte man zudem einen Anschlag angebracht: »Abschiedsritus anläßlich eines Trauerfalls«.
Es war auf halbem Abhang. Unten am Abhang folgte eine Straßenkreuzung, auf der ein Verkehrspolizist stand. Etwa dreißig Wagen, ohne sich auch nur irgendwie einzuordnen, drängten darauf zu, was den Mann – er starrte noch immer auf die Vögel, die wohl bei der Beisetzung aufgelassen werden sollten – nervös zu machen begann.
Er wandte sich an sein Hausmädchen, das steif neben ihm saß und vorsichtig einen Blumenkorb in den Armen hielt: »Wie spät mag es jetzt sein?«
Aber natürlich hatte das kleine Mädchen keine Uhr. Dafür antwortete der Fahrer: »Zehn vor sieben, und meine Uhr geht sechs oder sieben Minuten nach.« Es war noch hell an diesem Frühsommerabend. Die Rosen in dem Korb dufeten schwer. Aus dem Garten des Zen-Tempels wehte von den Juni-Blüten eines Baums ein beunruhigender Hauch herüber.
»Dann kommen wir zu spät. Können Sie nicht schneller fahren?«
»Im Augenblick bleibt mir nichts anderes übrig, als Platz zu machen, damit die auf der rechten Seite möglichst bald vorbei sind … Was gibt es denn in der Hibiya-Halle?« Der Fahrer überlegte wohl, ob er etwa Gäste mitnehmen könnte, die auf dem Heimweg von der Veranstaltung wären. »Eine Tanzvorführung.«
»Aha! … Ich möchte mal wissen, wie lange es braucht, alle die Vögel da fliegen zu lassen.«
»Eigentlich bedeutet es ja ein schlimmes Vorzeichen, wenn man unterwegs einem Trauerzug begegnet.« Das
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