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Träume jenseits des Meeres: Roman

Träume jenseits des Meeres: Roman

Titel: Träume jenseits des Meeres: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamara McKinley
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man sie in das Frauenzelt. Der Anblick, der sie dort erwartete, war ebenso entsetzlich. Den Frauen, die auf der Neptune gefahren waren, war es ebenso schlecht ergangen wie den Männern. Die Matrosen hatten offenbar wenig Mitleid für das schwache Geschlecht aufgebracht, denn die Frauen waren nur noch Haut und Knochen, hohlwangig und vorzeitig gealtert. Die meisten von ihnen würden die nächsten Stunden nicht überleben.
    Susan füllte eine große Schüssel mit heißem Wasser vom Herd, nahm das letzte saubere Handtuch und trat an das erste Strohlager. Es war schwer zu schätzen, wie alt die Frau war, denn ihr Gesicht war talgig, das Haar verfilzt und verlaust. Sie begann der Frau Gesicht und Hals zu waschen, wobei ihr die Prellungen an den Armen und auf den Rippen auffielen. Es bestand kaum Zweifel daran, dass sie erst kürzlich geschlagen worden war, denn die Prellungen waren noch schwarz.
    Die Frau schlug die Augen nicht auf, als Susan sie auf die Seite drehte, um ihr den Rücken zu waschen. Sie reagierte auch dann nicht, als das warme Wasser über die Striemen lief, die die neunschwänzige Katze hinterlassen hatte. Susan biss sich auf die Lippe. Sie wollte nicht weinen. Dazu war sie fest entschlossen. Aber, du lieber Himmel, warum hatten sie der armen Seele das angetan?
    Sie rollte die Frau zurück und pellte die schmutzigen, verlausten Lumpen von ihrem verbrauchten Körper. Sie warf sie in die Ecke, in der bereits ein Stapel darauf wartete, verbrannt zu werden. Dann zog sie das saubere, glatte Laken über die Frau und hoffte, es würde ihr Trost spenden.
    Sie war im Begriff, sich abzuwenden, als knochige Finger sich um ihr Handgelenk legten.
    »Danke.« Es war geflüstert und im allgemeinen Lärm kaum zu verstehen.
    Susan schaute in verblüffend braune Augen, die noch immer Überlebenswillen ausstrahlten, trotz allem, was ihr zugestoßen sein musste. »Tut mir leid, dass ich nicht mehr tun kann«, erwiderte sie, nahm die Hand und hielt sie in der ihren.
    »Ist schon gut.« Ein leises Lächeln umspielte die aufgesprungenen Lippen. »Zumindest gehöre ich zu den Glücklichen.«
    Susan schaute auf sie hinunter. »Wie alt sind Sie?«, fragte sie.
    »Neunzehn.« Die blassen Augenlider flatterten, und das Mädchen sank in tiefen Schlaf.
    Susan betrachtete sie eine Weile, und ihr Mitleid war so stark, dass ihr das Herz zu brechen drohte. Das Mädchen hätte ihre Tochter sein können, sie war nur zwei Jahre älter als Ernest. Behutsam steckte sie das saubere Laken um die nackten Schultern und ging fort. Auch andere brauchten ihre Hilfe, doch sie schwor sich im Stillen, zu diesem Mädchen zurückzukommen, denn etwas in ihrem Wesen hatte sie angerührt.
    Billy hatte alles getan, worum Gilbert ihn gebeten hatte, und noch mehr. Er hatte die Zelte aussortiert, die Vorräte aus dem Lager ausgeteilt, die Jagd in die Wege geleitet und war den Frauen und Ärzten, die den ganzen Tag und die ganze Nacht zu tun hatten, zur Hand gegangen. Nun saß er mit Gilbert und Ezra am Ufer des Flusses und teilte ein Fass Rum mit ihnen, während sie den Sonnenaufgang beobachteten. Es schien keine Rolle mehr zu spielen, dass ihre gesellschaftliche Stellung so grundverschieden war, denn die Ereignisse des Tages hatten die Grenzen der sozialen Etikette verwischt. Sie waren nur drei erschöpfte Männer, die versuchten, mit dem, was sie mit angesehen hatten, zurechtzukommen.
    »Zweihundertachtundsiebzig Tote«, murmelte Gilbert. »Und noch ehe dieser Tag zu Ende geht, werden es mehr.«
    »Jemand muss bestraft werden«, erwiderte Ezra, starr in den heller werdenden Himmel schauend. »Ich dachte, es gäbe Vorsichtsmaßnahmen, damit so etwas nicht passiert?«
    Gilbert seufzte und trank noch einen großen Schluck Rum. »Die gibt es auch, wenn die Königliche Marine die Verantwortung hat. Aber diese Sträflingsflotte war in der Hand von Freibeutern. Die Inkompetenz und das Unwissen der Offiziere und der Mangel an direkter Verantwortung bedeutete, dass die Sträflinge auf hoher See hilflos den Mannschaften ausgesetzt waren. Da die für die Sträflinge Verantwortlichen sich nicht austauschten und die Mannschaften aus Kneipen und Elendsvierteln zusammengesucht waren, war die Katastrophe abzusehen.«
    »Ich wette, niemand wird angeklagt«, brummte Billy. »Sträflinge zählen für Regierungen nicht.«
    »Da irrst du dich, William«, sagte Gilbert. »Ich mache es mir persönlich zur Aufgabe, eine gerichtliche Untersuchung der Behandlung dieser Sträflinge

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