Träume jenseits des Meeres: Roman
Mutter«, seufzte Florence. »Wie konntest du dich nur von einem so abgedroschenen Drama einnehmen lassen?« Sie sah das Mädchen im Bett wütend an.
»Hör einfach nur zu, Florence. Das Ganze wird dir noch früh genug klar werden«, erwiderte Susan. Sanft drückte sie die Finger der Gefangenen, um sie weiter zu ermutigen. »Mach weiter, meine Liebe. Es ist wichtig, dass du zu Ende erzählst.«
Das Mädchen klammerte sich an Susans Hand. »Ich entdeckte, dass ich schwanger war, und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich konnte nirgendwo hingehen und mich an niemanden wenden. Ein paar Monate konnte ich es geheim halten, aber dann hat die Köchin es herausgefunden und mich noch am selben Tag entlassen.«
Ihre Stimme wurde kräftiger. »Ich habe ihr gesagt, was der Herr getan hatte. Ich wollte ihr zu verstehen geben, dass es nicht meine Schuld war.« Mit nervösen Fingern zupfte sie am Laken, ihr Blick wanderte zu Florence, dann zu Susan. »Er hat mir zwei Guineen gegeben, damit ich den Mund hielt, und mich rausgeworfen.«
Florence löste den Blick von der Zeltleinwand und schaute auf das Mädchen im Bett. »Was ist dann passiert?«, fragte Florence.
»Ich bin nach Hause gegangen, aber mein Vater war im Steinbruch ums Leben gekommen, und meine Stiefmutter hat sich geweigert, mich aufzunehmen. Das meiste Geld wurde kurz darauf gestohlen. Niemand wollte mich in meinem Zustand einstellen, und ich musste auf der Straße leben, um Almosen betteln und in Hauseingängen schlafen. Ich hätte mich verkaufen können, aber ich musste mich an dem Rest Stolz festhalten, der mir noch geblieben war.«
Die braunen Augen des Mädchens ließen Florence nicht los. »Aber Stolz macht nicht satt, wenn man tagelang nichts gegessen hat, und ich fing an, Nahrungsmittel zu stehlen. Man hat mich mit einem Laib Brot erwischt und ins Gefängnis geworfen. Mein Kind kam zu früh zur Welt und starb.« Sie ließ den Kopf hängen. »Dafür bin ich dankbar, denn es bedeutete, dass es nicht leiden musste.«
Florence gab ihre starre Haltung auf, und Susan wusste, dass sie endlich zu begreifen begann. In ihren Augen schimmerte sogar so etwas wie Mitgefühl auf, wofür Susan sie am liebsten umarmt hätte – doch das Mädchen war noch nicht fertig.
»Ich wurde zusammen mit anderen Frauen auf die Neptune gesteckt. Wir wurden von den Matrosen benutzt, misshandelt, geschlagen, und sie ließen uns hungern. Als wir irgendwo in den Tropen anlegten und die Männer vom Sklavenschiff an Bord der Neptune kamen, war es am schlimmsten.« Die Stimme versagte ihr, und sie schloss die Augen; Tränen traten unter den Wimpern hervor und rannen über ihre bleichen Wangen.
Susan strich ihr über das Haar und versuchte sie zu beruhigen. »Es ist vorbei, meine Liebe. Du bist in Sicherheit. Konzentriere dich nur darauf, wieder zu Kräften zu kommen.« Sie schaute Florence an und wusste, welche Frage ihr auf den Lippen brannte.
Florence beugte sich auf ihrem Stuhl vor. »Wie heißt du?« Ihre Stimme klang schwach in der Stille.
Das Mädchen schlug die Augen auf. »Millicent Parker.«
Florence reagierte verstört auf die Enthüllung des Mädchens, machte aber durch ihr Verhalten deutlich, dass sie nicht darüber reden wollte. Der Heimweg verlief schweigend. Susan war barsch mit Florence umgegangen, doch war es eine heilsame Lektion, und sie hoffte, sie würde ihr guttun.
Sie fragte sich, ob sie und Florence sich je nahestehen würden. Ihre Beziehung hatte schon in dem Augenblick, als sie auf die Welt kam, schlecht begonnen, weil Susan noch immer um ihren kleinen Thomas trauerte. Florence hatte geschrien, wenn sie versuchte, sie an sich zu drücken, hatte sich in ihren Armen versteift und sie von sich gestoßen. Es war, als hätte sie gewusst, dass Susan so bald kein nächstes Kind hatte haben wollen. Vielleicht hatte das Kind die fehlende Bindung zwischen ihnen gespürt und sich deshalb instinktiv dem Vater zugewandt?
Susan dämmte ihre schweifenden sorgenvollen Gedanken ein. Sie würde es wohl nie ganz verstehen. Sie dachte an Millicent – ein weiteres gequältes Mädchen, das sich jedoch nichts hatte zuschulden kommen lassen. Es war ein furchtbarer Schock für sie gewesen, als sie erkannte, wer sie war und welchen Anteil Jonathan an ihrem Niedergang hatte. Der Mann, den sie so leidenschaftlich geliebt hatte, hatte sie beide betrogen.
Ezra wartete an der Tür auf sie, als sie nach Hause kamen. Susan merkte, dass er kaum auf Florences warmherzige Begrüßung
Weitere Kostenlose Bücher