Träume jenseits des Meeres: Roman
murmelte Millicent. »Aber es wird bald dunkel«, fügte sie mit einem nervösen Blick aus dem Fenster hinzu. Der Sonnenuntergang kündigte sich hier nicht an – es war immer, als würde eine Kerze ausgepustet.
Susans Geduldsfaden musste kurz vor dem Zerreißen sein, denn ihr Tonfall war ungewöhnlich scharf. »Je eher die Nachricht abgegeben wird, umso schneller bist du wieder zu Hause.« Sogleich wurde ihre Miene weicher, und sie legte Millicent einen Arm um die Taille. »Du musst wirklich versuchen, tapfer zu sein. Ich kann nicht immer mitkommen.«
Millicent wusste, dass Susan Recht hatte – doch dadurch wurde sie nicht mutiger. Noch immer fuhr sie bei lauten Geräuschen zusammen und scheute größere Gesellschaften, wenn es sich nicht um Familie handelte. Der Anblick einer Gruppe von Männern, und seien sie noch so nüchtern und angesehen, ließ sie vor Angst zittern. »Ich versuche es.«
»Braves Mädchen«, sagte Susan munter. »Und wenn ich zurückkomme, können wir letzte Hand an dein Hochzeitskleid legen.« Sie drückte Millicent einen Kuss auf die Wange und eilte zur Tür hinaus.
Der Gedanke an Ernest verlieh ihr ein Quäntchen Mut, und sie spürte die vertraute Wärme, als sie sich an seinen Heiratsantrag erinnerte. In den letzten acht Monaten war er regelmäßig zu Besuch gekommen; kurz vor Weihnachten hatte er um ihre Hand angehalten – an dem Tag, an dem sie endlich freigesprochen wurde. Er hatte das Knie vor ihr gebeugt, nachdem man sie im Mondschein allein gelassen hatte.
Lächelnd betrachtete sie den Ring, den er von einem durchreisenden Matrosen erstanden hatte. Der mit einem Diamantensplitter besetzte Reif war sehr kostbar und versprach eine wunderbare Zukunft. Ihr Blick wanderte zu dem Kleid, das in einem Musselintuch hing und auf den letzten Schliff wartete. Die Hochzeit sollte in einem Monat sein, und dann würden sie zur Hawks Head Farm hinausfahren und ihr neues Leben in dem Haus beginnen, das er eigens für sie bauen ließ.
Millicent merkte, dass sie Tagträumen nachhing, und legte ihre Schürze ab. Darunter trug sie ihr altes graues Kleid, wie immer, wenn sie Besorgungen machte. Grau gefiel ihr: Es machte sie unsichtbar, wenn sie aus dem Haus musste.
Sie blieb so lange an der Tür stehen, bis Susan außer Sichtweite war. Mit zitternden Fingern knüpfte sie die Bänder ihrer schlichten Haube zu, zog ihren leichten Umhang über und trat aus dem Haus. Die Sonne stand niedrig, aber die Hitze lag wie ein Dunstschleier über dem Land und war erdrückend. Es war so ganz anders als ein Februar in Cornwall, wo der Himmel bleiern wurde und das Meer ans Ufer schlug, wo lodernde Feuer dem Haus die Kälte nahmen. Sie holte tief Luft und machte sich auf den Weg.
Der Lärm aus der Stadt drang zu ihr herauf, und als sie näher kam, war sie überrascht, wie geschäftig alle waren. Die Webstühle in der Frauenfabrik klapperten und rasselten, der Hammer des Schmieds klang auf Eisen, und eine Gruppe in Ketten gelegter Sträflinge brach Steine unter den Rufen des Aufsehers und dem Knall der Peitsche.
Weibliche Sträflinge in ihren hellgelben Kleidern arbeiteten in der Wäscherei unter freiem Himmel, ihr kreischendes Gelächter wollte so gar nicht zu ihrer Lage passen. Eigenhändig scheuerten sie die schweren Decken und Uniformen und schleppten sie danach durch dichte Dampfwolken. Der Hafen hallte wider von dem Lärm, der mit den Reparaturarbeiten an den vor drei Monaten eingelaufenen elf Schiffen verbunden war, und die widerliche Hitze wurde von dem ätzenden Qualm der brennenden Teerfässer noch verstärkt.
Millicent huschte durch den Schatten der Veranden vor den Läden, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Dennoch war sie sich der Gruppe Matrosen überdeutlich bewusst, die einen betrunkenen Aborigine lauthals aufforderten, noch mehr Rum zu trinken und zu tanzen. Sie spürte die Soldaten, die vor den Schnapsläden herumlungerten, und die schwankenden Offiziere, die mit gefährlicher Gleichgültigkeit über die neu gepflasterte Straße ritten. Unter ihrem Umhang brach ihr der Schweiß aus, doch war ihr das allemal lieber, als ihn auszuziehen. Es war nun nicht mehr weit, doch erschien ihr der Weg bis zu den hohen Mauern der im Bau befindlichen Kirche unendlich lang.
Erleichtert bog sie von der Hauptstraße ab und betrat das relativ friedliche Grundstück der Kirche. Sträflinge arbeiteten auf dem Holzgerüst hoch oben, während andere sich mit Hämmern, Nägeln und Meißeln unter den
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