Träume jenseits des Meeres: Roman
das Herz: Ihre Pläne waren zunichtegemacht, und das Leben würde nie wieder so sein wie bisher. Er würde sie nun nicht mehr haben wollen. Warum auch? Sie war gebraucht und dreckig, nicht dazu geeignet, seine Frau zu werden – niemandes Frau.
Es klopfte leise an der Tür, und sie schreckte aus ihren düsteren Gedanken auf, als sie Susans besorgte Stimme hörte. »Millie? Kann ich reinkommen?«
Sie blieb einen Augenblick liegen, nicht willens, sich zu rühren, und hatte Angst davor, was auf der anderen Seite dieser Tür sein könnte. Sie wollte niemanden sehen und mit niemandem reden, wollte nicht die nächste Stufe auf dieser Höllenleiter erklimmen. Doch Susan war hartnäckig. Also stand Millicent zögernd auf und entfernte den Stuhl, bevor sie sich wieder unter der Decke verkroch.
Das Bett gab nach, als Susan sich neben sie setzte. »Der Justizbeamte ist da«, sagte sie leise. »Er muss von dir genau hören, was passiert ist, damit er Anklage erheben kann.«
Millicent liefen stille Tränen über das Gesicht. Würde diese Qual denn nie ein Ende haben? Wie lange würde es noch dauern, bis ihre zarte Verbindung mit der Wirklichkeit brüchig wurde und sich ganz auflöste? Woher sollte sie die Kraft nehmen, das durchzustehen?
Susans Hand lag weich auf ihrem Arm, ihre Stimme war beruhigend und ermutigend. »Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, was du durchmachst, Millie, aber du musst noch eine Weile stark bleiben.« Sie drückte sie an sich. »Du bist meine liebste Freundin geworden«, murmelte sie. »Und wenn ich es dir abnehmen könnte, würde ich es tun.«
Millicent löste sich sanft aus der Umarmung und schaute Susan an. Sie sah das Mitgefühl und den Schmerz, unter dem ihre Freundin litt. Florence hatte gelogen, das wurde ihr durch den Nebel der Qual bewusst. Susan lag wirklich etwas an ihr – und sie hatte sie nicht nur aus Mitleid aufgenommen. »Bleibst du bei mir?«
»Aber sicher. Und dann, wenn alles vorbei ist, kannst du schlafen, und ich werde dafür sorgen, dass dich niemand stört.«
Millicent brachte ihren letzten Mut für das Verhör auf und nickte. Sie wusste, sie würde noch tiefer graben müssen, wenn sie den Kampf, der ihr bevorstand, gewinnen wollte.
Tahiti, 1793
Tahammas Frau stand am Strand und sah ihm nach, wie er mit den anderen Männern zum Fischfang hinausfuhr. Sie wären mindestens drei Tage unterwegs, denn die schwarzen Perlen, die sie suchten, waren nur am äußeren Riff zu finden. Sie blieb so lange stehen, bis sie nur noch Tupfer am Horizont waren. Ohne ihn wäre es einsam, denn Tahamma war ein großer Mann, und seine mächtige, freundliche Präsenz fehlte ihr jetzt schon.
Lächelnd betrachtete sie ihre Kinder, die mit der Großmutter im Sand spielten. Ihr Sohn und ihre Tochter hatten die blasse Haut des Vaters, der kleine Junge trug dasselbe tränenförmige Mal auf der Schulter wie sein Vater; es hatte sie immer fasziniert. Er hatte gerade laufen gelernt und watschelte mit einer Muschel in der Hand auf sie zu. Sie hob ihn hoch und gab ihm einen Kuss – doch er hatte für Schmuserei nichts übrig und zappelte wütend, bis sie ihn wieder absetzte.
Laute Rufe unten am Strand lenkten sie ab. Ein Schiff wurde entladen, und die anderen Frauen eilten hin, um zu sehen, ob es etwas zu tauschen gab. Sie ließ die Kinder bei ihrer Mutter und lief hinterher.
Das Schiff war in der Nachbarbucht vor Anker gegangen, und die Seeleute hatten Tische aufgebaut mit herrlichen Sachen im Tausch gegen Perlen und parfümierte Öle, Sandelholz und exotische Vögel. Sie sah sich die winzigen Spiegel an, in deren mit Edelsteinen besetzten Rahmen sich das Licht brach. Sie befingerte die Bänder und den zarten Stoff, berührte die Perlen, Armbänder und hübschen Kämme. Wie gern hätte sie so etwas besessen – doch sie hatte nichts zum Tausch anzubieten, bis Tahamma zurückkehrte, und die Missionare hatten dafür gesorgt, dass die Frauen sich nicht mehr selbst feilboten.
Sie war im Begriff zu gehen, als ihr Blick von einem Gegenstand angezogen wurde, der in der Sonne glitzerte. Sie trat näher und zog ihn aus der Schachtel mit Perlen. Sofort wusste sie, dass sie ihn haben musste. Der Dolch steckte in einer reich verzierten Silberscheide. In den Griff waren schöne Steine eingelegt, die rubinrot, saphirblau und smaragdgrün aufblitzten. Die breite Klinge lief spitz zu und war sehr scharf – ideal zum Öffnen von Austern. Sie hielt den Dolch in die Sonne, drehte ihn hin und her, um
Weitere Kostenlose Bücher