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Träume jenseits des Meeres: Roman

Träume jenseits des Meeres: Roman

Titel: Träume jenseits des Meeres: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamara McKinley
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sie erneut die Flut verpassten.
    Waymbuurr (Cooktown, Australien), Dezember 1768
    Der halbmondförmige Strand lag zwischen den schützenden Ausläufern zweier Felsenklippen. Diese Klippen waren dicht mit denselben üppigen Schraubenpalmen und Farnen bewaldet, die sich über die ganze Bucht und die nördliche Küstenlinie verteilten. Dahinter lagen die Jagdgründe, das wuchernde Grasland, das regelmäßig mit Feuerstöcken in Brand gesetzt wurde; die Flammen ermöglichten neues Wachstum, damit die Tiere jedes Jahr zum Äsen wiederkamen. Dort waren die Bäume schlanker, hatten blasse Rinde und silbrige Blätter, doch nisteten in ihren Ästen nicht nur Vögel: Dort hausten auch Koalabären und wohlschmeckende Opossums. Hier war der Stamm der Ngadyandyi zu Hause, dieses Land war seit den Urahnen, die als Erste über die Erde gezogen waren, in ihrer Obhut gewesen.
    Anabarru hockte sich ans Wasser und wartete darauf, dass die Ebbe einsetzte, damit sie die an den Felsen klebenden Schalentiere sammeln konnte. Bis auf einen schmalen Gurt aus geflochtenem Haar, eine Muschelkette um den Hals und einen zarten Knochen durch die Nase war sie nackt. Mit ihren fünfzehn Jahren war sie zur Frau initiiert, und ihre dunkle Haut war mit den tiefen Narben und Rissen der Initiationsriten gezeichnet. Ihre Ehe mit dem Sohn des Ältesten, mit Watpipa, den sie vor zwei Jahren geheiratet hatte, bedeutete, dass ihre Kinder direkte Nachfahren des großen Urahnen Djanay waren, von dessen weiser Führung die Höhlenzeichnungen erzählten.
    Sie war zufrieden mit ihrem Leben und beobachtete, wie der Feuerwagen der Sonnengöttin allmählich seine Reise über den Himmel beendete. Sie freute sich auf das Festmahl am Abend. Der Strand war ebenso verlassen wie das Wasser: Die Ruhe und zeitlose Schönheit ihrer Umgebung waren von Eindringlingen unberührt. Ihre Familie lebte jetzt in Frieden, nachdem sie eine Waffenruhe vereinbart hatte mit dem Volk der Lizard, dessen Land an ihre Grenzen stieß; auch die hellhäutigeren Fischer und Schalentiersammler, die einst in ihren seltsamen Booten aus dem Norden an diese Küste gekommen waren, hatte man seit Generationen nicht mehr gesehen. Bei den corroborees hatte es Gerüchte über geisterhafte Männer gegeben, die im Norden und weit im Südwesten aufgetaucht waren, von großen Kanus mit weißen Flügeln, die an den Felsen zerschellt waren – doch da unter den Lebenden niemand bestätigte, dass er sie wirklich gesehen hatte, nahm man dies einfach als eine Legende hin.
    Anabarru starrte auf den Horizont und ließ ihren Gedanken freien Lauf, während die sanften Wellen ihre Füße umspielten. Als die Sonne jedoch hinter den Bäumen verschwand und die Vögel ausschwärmten, bevor sie sich zur Nacht niederließen, überlief sie ein kalter Schauer. Nicht etwa, weil ihr kalt, sondern weil ihr unbehaglich zumute war – da das eine für sie ungewöhnliche Gefühlsregung war, wusste sie nichts damit anzufangen.
    Sie schaute über den Strand, dann über die Schulter, um in die zunehmende Dunkelheit des Regenwaldes zu spähen. Niemand war in Sicht, doch spielten fast immer Kinder im Sand, oder es fuhren Männer in ihren Rindenkanus auf dem Wasser, um mit Speeren Fische zu fangen. Sie erhob sich, wandte dem Meer den Rücken zu und blinzelte in die untergehende Sonne. Die Schatten unter den Bäumen waren tiefschwarz, doch sie sah keine Bewegung, keine Spur vom Rest ihrer Familie.
    Als Geschwätz und Lachen durch die Bäume zu ihr drangen, merkte sie, wie töricht sie gewesen war. Beruhigt, da sie ihre Familie in der Nähe wusste, nahm sie ihre kleine Tochter auf und setzte sie sich auf die Hüfte. Birranulu war ein knappes Jahr alt, und ihr Lächeln, als sie die Ärmchen um ihren Hals schlang, wärmte das Herz der Mutter. Anabarru gab ihr einen Kuss auf die Wange und watete ins Wasser. Es war kühl und erfrischend, und das Kind gluckste vergnügt, als die seichten Wellen an seine nackten Beine schlugen und den Bauch hinaufkrochen.
    Als die Sonne feuerfarbene Streifen über den Himmel warf, brachte Anabarru Birranulu wieder an den Strand und gab ihr ein paar Muscheln zum Spielen, während sie nach Schalentieren suchte. Sie nahm ein Steinwerkzeug mit und watete mit einem Beutel aus geflochtenem Gras an der Hüfte in die Seen, die bei Ebbe zwischen den Felsen zurückblieben, und begann, glänzende schwarze Muscheln abzustemmen. Bald, dachte sie, während sie den Beutel füllte, ist Austernzeit, und ich kann die kleinen

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