Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum
mich, was mich daran so berührt. Zu Hause würde ich das wahrscheinlich gar nicht registrieren. Die Wahrnehmung der Natur und allen Lebens verändert sich auf dem Jakobsweg. So zumindest bei mir. Es geschehen Dinge, in die man viel hineininterpretieren kann, wenn man offen dafür ist und seinen Nutzen daraus zieht, wie bei meiner Begegnung mit dem Husky in Puenta la Reina, als ich krank war. Dann ist das doch nicht verkehrt, oder? Eine Freundin, die ich auf dem Weg noch kennen lernen werde, erzählte mir, ihr passierten auch ständig solche Dinge. Ihr ist heiß und sie denkt: ich brauche Schatten, in der Sekunde verdeckt die einzige am Himmel stehende Wolke die Sonne und spendet ihr Schatten. Sie setzt sich hin, um etwas zu essen, ihre Thunfischdose ist jedoch nur mit einem Dosenöffner zu öffnen, als ihr in der nächsten Sekunde der vorbeikommende Pilger die Dose aus der Hand nimmt und mit seinem Taschenmesser öffnet. Ich biege im Verlauf meiner Reise nach Finisterre in ein völlig ausgestorbenes Dorf ab, um einen Bäcker zu suchen, als in der nächsten Sekunde ein Wagen vor mir hält, den Kofferraum öffnet und Brot verkauft. Hape Kerkeling erzählt von einer Pilgerin, die seit Stunden kein Wasser mehr hatte und unbedingt etwas trinken wollte, als im nächsten Moment eine dicke Orange vor ihr auf dem Boden liegt. Man denkt an etwas und es erfüllt sich. Es sind die Kleinigkeiten. Ich will jetzt nicht verrückt erscheinen, aber ein wenig zu denken gibt einem so was dann schon. Und zum Nachdenken hat man auf dem Camino wirklich Zeit. Eigentlich bin ich absoluter Realist. Ich meine, alles mit Wissenschaft erklären zu können und wenn ich es nicht kann, dann kann es jemand anderes. Und was niemand erklären kann? Das wird man in den nächsten Jahrhunderten erklären können, wenn die Wissenschaft so weit ist. Und doch mag ich den Gedanken an das Unerklärliche, an das Übernatürliche. Bevor ich nun aber zu weit vom Thema abkomme und über Zufall und Schicksal zu philosophieren beginne, kehre ich auf meinen Pfad der Realität zurück, der mich mittlerweile nach Villamayor de Monjardín geführt hat, dem eigentlichen heutigen Etappenziel. Noch bin ich mir nicht bewusst, dass der heutige Tag der längste meiner gesamten Reise werden wird.
An einem wunderschönen Kirschbaum bleibt mein Blick hängen. Er steht direkt am Camino und ist bis oben hin mit prachtvollen, prallen, rot glänzenden Kirschen gefüllt. Er sieht so verlockend aus, dass ich mich schon frage: „Wo ist der Haken?“ Mutig strecke ich meinem Arm aus, pflücke eine der Kirschen vom Baum und stecke sie mir in den Mund. Im hohen Bogen spucke ich sie im nächsten Augenblick wieder aus und weiß nun, wo der Haken ist. Anscheinend sind das nicht die Kirschen, die ich mittwochs immer auf dem Wochenmarkt kaufen kann. Schon Adam wusste, dass der optisch so schöne rote Apfel nicht das Gelbe vom Ei ist. Ein älterer Pilger, der meine Tat wohl beobachtet hat, fragt mich lachend, ob mir die Kirschen nicht munden und erklärt mir im zweiten Satz, dass es sich um Kirschen handelt, die allerhöchstens die Vögel verzehren, ich aber nicht wie ein Vogel aussehe. Na, vielen Dank für den Hinweis! Was ein Spaßvogel! Sein Name ist Alexander, 63 Jahre alt, in Chile geboren und seit 40 Jahren in Australien sesshaft. Im Schlepptau hat er seinen alten Schulfreund Fernando und eine junge Schweizerin in etwa meinem Alter, welche sich seit Saint-Jean-Pied-de-Port an die beiden geheftet hat. Auf meine Frage hin, wieso sie so stark humpelt, erklärt sie mir, dass sie seit fast 10 Jahren den Jakobsweg gehen wollte, sich dann kurz vorher ihr Bein gebrochen hat und bis vor 2 Wochen vor Abreise noch auf Krücken laufen musste. Das Tempo der beiden Rentner käme ihr dabei sehr gelegen und sie seien auch überaus komisch. Ja, das habe ich eben auch schon erfahren, wobei ich noch nicht weiß, ob ich die Komik auf meine Kosten teilen möchte.
Ich schließe mich der Karawane an und wir laufen zusammen ein gutes Stück weiter, bis Alex und ich uns in ein ausgiebiges Gespräch vertieft unmerklich von den beiden anderen absetzen. Ich bin sehr an seiner Lebensgeschichte interessiert und da Australien auch noch auf meinem Plan steht, frage ich ihn natürlich darüber aus. Wir verstehen uns prächtig und haben einen guten Schritt drauf, so dass Fernando und die Schweizerin, ich weiß ihren Namen leider nicht mehr, langsam immer kleiner werden, bis wir sie irgendwann gar nicht mehr sehen. Da
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