Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum
Sternenhimmel mit Milchstraße, die einem mehr oder weniger genau den Weg nach Santiago zeigt. Vor mir liegt die Meseta, auch wenn das noch ein gutes Stück ist, bis ich in Frómista ankomme, finde ich die Idee nicht schlecht, mir die Hitze durch eine Nachtwanderung zu ersparen. Mein nächster Gedanke ist: „Ruhig Brauner! Ein Schritt nach dem anderen und wenn du da bist, kannste dir das Ganze noch einmal überlegen.“ Und so trotte ich gemütlich weiter. Ohne merklichen Anstieg erreiche ich den Cisa-Pass, von wo aus man wieder einen sehr schönen Ausblick hat.
Die Stunden vergehen und mein Hunger meldet sich wieder. Schließlich ist es schon eine ganze Weile her, dass ich mein selbstgeschmiertes, zwei Tage altes Bocadillo verdrückt habe. Der Hunger treibt mich an und ich erhöhe mein Tempo deutlich, um noch etwas Essbares aufzutreiben, bevor ich dann endlich mein Nachtlager aufschlagen kann. Um etwa 21 Uhr erreiche ich Boadilla del Camino. Ich laufe das gesamte Dorf ab, werde aber bitterlich enttäuscht, da ich weder einen Minimercado noch eine Tienda finde. Kurz überlege ich, in dem einzigen Restaurant, das eher eine Bar ist, nach etwas Essbaren zu fragen, entschließe mich dann aber, wieder zum Dorfeingang zurück zu kehren und in der Herberge um Hilfe zu bitten.
Gesagt, getan und so lerne ich Serra, den Herbergsvater der privaten Herberge kennen, die er grade erst 2008 eröffnet hat. Ich erkläre ihm meine Situation und er ist sofort hilfsbereit und bittet mich, ihm zu folgen. Zwar erklärt er mir, dass er nichts hat, aber einen Apfel, Orangen, eine angebrochene Packung Kekse sowie ein rohes Ei kann er dann doch noch auftreiben. Auf meine Frage hin, was er dafür verlange, lehnt er nur kopfschüttelnd ab und bittet mich, an seiner kleinen Bar Platz zu nehmen. Wir beginnen ein sehr nettes langes Gespräch und ich verdrücke binnen weniger Sekunden die Früchte, die Kekse und sauge zum Schluss auch noch das rohe Ei aus. Beeindruckt von meinem Hunger holt er unterm Tresen seine persönliche Kekspackung hervor und zapft mir erst einmal ein ordentliches Bier. Mein Magen füllt sich weiter mit leckeren Keksen. Serra kommt noch einmal auf meine Frage zurück, was ich ihm schuldig bin und deutet an die Decke seiner Bar, die voll von Postkarten ist. Alles Pilger, denen er einen Gefallen getan hat oder die einfach einen netten Aufenthalt in seiner Herberge hatten. Wenn ich Lust habe, kann ich ihm am Ende meiner Reise eine Karte als Dank schicken. Von so viel Gastfreundlichkeit überwältigt, verspreche ich ihm, dies auf jeden Fall zu tun. (Habe ihm am Ende meiner Reise aus Finisterre eine Karte geschickt.)
Ursprünglich wollte ich heute bis Frómista laufen und dort ein wenig pausieren, um dann in der Nacht weiter zu laufen. Als ich jedoch das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es bereits 23:30 Uhr und Serra hat es auch nicht nur bei einem Bier belassen. Etwas angetrunken und nun doch todmüde beschließe ich daher, mein Zelt auf der angrenzenden Wiese aufzuschlagen und auf eine Dusche zu verzichten. Ist auch gar nicht so das Problem, ungeduscht zu schlafen, denn der Schweiß ist mittlerweile getrocknet. Problematisch wird es erst, wenn man die Schuhe auszieht. Wäre ich jetzt in einer Herberge, wäre es mir fast peinlich und die anderen Pilger würden mir regelrecht leidtun. So muss nur ich leiden, bis ich meinen verdienten Schlaf finde.
23.06.09, Dienstag — Boadilla del Camino nach Carrión de los Condes
Mit einem leichten Kater wache ich morgens um etwa 8 Uhr auf und kippe erst einmal einen halben Liter Wasser in mich hinein, um anschließend zur nahegelegenen Quelle zu gehen und diesen Vorgang noch ein weiteres Mal zu wiederholen. Es ist noch ziemlich kühl und keine Menschenseele zu sehen. Bevor ich meine Sachen packe und losziehe, hole ich die gestrige nicht genommene Wäsche nach, auch wenn es eigentlich nutzlos ist, sich vor der Wanderung zu waschen. Aber irgendwie ist mein Verlangen zu groß. Habe ziemlich wirres Zeug heute Nacht geträumt, wurde von meinen Eltern bevormundet und sie haben mir den Autoschlüssel abgenommen. Meine Nachbarn tauchten dann auch noch auf und gaben mir kluge Ratschläge. Was soll’s, um meinen Autoschlüssel brauche ich mir momentan keine Gedanken machen, zumindest nicht im wachen Zustand.
Um 9 Uhr bin ich startklar und mache mich wieder auf den Weg zu neuen Abenteuern. Mal sehen, wie weit ich heute komme. Es geht bis Frómista an einem langen Kanal entlang. Zur Linken
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