Traeume Suess, Mein Maedchen
in seiner Klasse fand. »Du hast gesagt, es würde nur zehn Minuten dauern.«
Emma entschuldigte sich und gab ihrem Sohn den Becher, worauf er sofort wieder in seiner Klasse verschwand, ohne sich zu bedanken oder sie zum Abschied zu umarmen. Sie war schon ein gutes Stück den Flur hinunter, als eine Frauenstimme sie aufhielt.
»Verzeihung«, rief die Stimme, und ihre Dringlichkeit hallte den langen Flur hinunter. »Verzeihung, Mrs. Frost?«
Emma drehte sich um, als Dylans beunruhigend aufrichtige Lehrerin Miss Kensit schon fast vor ihr stand. Annabel
Kensit war einer dieser Menschen, die ständig in Bewegung zu sein schienen. Sie hatte kurze schwarze Haare und kleine dunkle Augen, und Emma wurde jedes Mal nervös, wenn sie sie sah.
»Ich hatte gehofft, dass sich eine Gelegenheit ergibt, mit Ihnen zu sprechen«, sagte die junge Frau und verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Sie war etwa so alt wie Emma, sah aber aus, als sei sie dem Teenageralter gerade erst entwachsen. Emma fragte sich, warum plötzlich alle unbedingt mit ihr reden wollten. War Dylans Lehrerin gestern auch bei Marshalls gewesen? War sie gekommen, um eine Erklärung zu verlangen?
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Emma ängstlich.
»Alles ist bestens. Wir haben bloß eine Weile nicht mehr miteinander gesprochen, und ich hatte gehofft, Sie beim letzten Elternsprechtag zu sehen.«
»Ja, entschuldigen Sie. Ich habe mich ein wenig unwohl gefühlt.«
»Tut mir Leid für Sie.« In Miss Kensits kleinen Augen blitzte für einen Moment Besorgnis auf. »Ich hoffe, jetzt geht es Ihnen wieder gut.«
»Ja. Alles bestens.«
»Schön.«
»Gibt es ein Problem?« Bitte lass es kein Problem geben, betete Emma stumm.
»Eigentlich nicht. Es gibt nur ein paar Sachen, über die ich gerne mit Ihnen sprechen würde.«
»Zum Beispiel?«
»Nun, Dylan ist ein süßer kleiner Junge, aber er regt sich bei jeder Kleinigkeit fürchterlich auf. Wie heute Morgen. Er hat sich solche Sorgen gemacht, weil Sie zu spät gekommen sind.«
Sie konnte dieses Gespräch jetzt nicht führen. Sie hatte weder die Zeit noch die Kraft dafür. Und auch wenn sie all der Lügen überdrüssig war, hatte sie noch mehr Angst
vor der Wahrheit. Die Wahrheit würde alles nur noch komplizierter und schlimmer machen. Die Aussicht, sich ihren Dämonen zu stellen und ihre Sünden zu bekennen, war schlicht zu erschreckend. Es war besser und auf jeden Fall leichter, weiter zu flüchten, sich weiter zu verstecken und weiter so zu tun als ob. Die Wahrheit brachte zu viele Konsequenzen mit sich, und Konsequenzen waren nie Emmas Stärke gewesen. Vielleicht würde sie irgendwann den Mut aufbringen, nicht mehr wegzulaufen und die Frau zu sein, der sie all die Jahre nachgelaufen war, eine Frau, die sich ihrer Vergangenheit nicht schämte, deren Gegenwart voller Chancen war und die keine Übertreibungen und Ausschmückungen brauchte, um stolz auf sich zu sein. Aber jetzt musste sie erst einmal nach Hause, ihren Koffer packen und durchziehen, was sie schon gestern Nacht hätte tun sollen. »Verzeihung, Miss Kensit. Im Augenblick passt es mir gerade nicht so gut.«
»Oje. Tut mir Leid. Meinen Sie, Sie könnten sich heute Nachmittag ein paar Minuten Zeit nehmen, wenn Sie Dylan abholen?«
»Auf jeden Fall. Bis später dann.« Warum auch nicht, fragte Emma sich. Sie konnte die Verabredungen, die sie nicht einzuhalten gedachte, auch ebenso gut alle auf einen Zeitpunkt legen.
Sobald sie in die Mad River Road bog, sah sie den alten blauen Thunderbird. Er stand wieder auf seinem vorherigen Platz vor Mrs. Discalas Haus, und als Emma näher kam, sah sie, dass auf den Vordersitzen zwei Personen saßen. Was machten sie hier? War es möglich, dass sie sie verfolgten? Waren sie hierher zurückgekehrt, um ihr Haus auszukundschaften? Vielleicht waren es Polizisten im verdeckten Einsatz, die sie auf Jeff Dawsons Anweisung beschatteten? Oder schlimmer. Vielleicht waren sie hier, weil man ihren Aufenthaltsort entdeckt hatte. Vielleicht würden die Leute in dem Auto ihr ihren Sohn wegnehmen.
Emmas Antennen waren in voller Alarmbereitschaft, als sie die Straße überquerte, um sich so schnell wie möglich von dem Wagen zu entfernen. Aber irgendetwas an der Art, wie die Frau auf dem Beifahrersitz hockte, leicht vorgebeugt und den Rücken an die Tür gepresst, als ob sie nicht freiwillig in dem Fahrzeug sitzen würde, ließ Emma stutzen. Ihre Neugier behielt schließlich die Oberhand. Sie drehte sich um, ging
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