Traeume Suess, Mein Maedchen
das Gleiche wie Joseph Cotton in Das Haus der Lady Almquist. Erinnerst du dich an den alten Film, wo er als Ingrid Bergmans Ehemann versucht, ihr einzureden, sie wäre verrückt.«
Lily schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, nicht.«
»Du hast noch nie Das Haus der Lady Almquist gesehen?« Jan wirkte beinahe so entsetzt wie über das Fehlen ihrer Trophäe.
»Wann hast du die Vitrine denn zum letzten Mal aufgeschlossen?«, fragte Lily.
»Als ich die Pokale zum letzten Mal poliert habe. Letzten Montag vermutlich.«
»Und du bist sicher, dass da noch alle Trophäen da waren?«
»Absolut.«
Das Telefon klingelte. Lily kehrte zum Tresen zurück und nahm ab. »Scully’s Sportstudio. Nein tut mir Leid. Da haben Sie sich verwählt.« Lily legte auf und beschloss, Jan nicht zu erzählen, dass der Anrufer nach Art Scullys Fitnessstudio gefragt hatte.
»Moment mal«, sagte Jan plötzlich und piekste mit ihren langen Fingernägeln in die Luft. »Das Telefon.«
»Das Telefon?«
»Mein Neffe hat mich angerufen. Deine Freundin Emma war hier. Ich habe ihr die Trophäen gezeigt, als das Telefon klingelte.«
Lilys Magen sackte bis zu ihren Zehen. »Wann war das?«
»Gestern. Ich glaube, sie hat eigentlich dich gesucht. Ich hab ihr gesagt, dass du nicht da wärst, wir haben ein paar Minuten geplaudert, sie hat mich nach meinen Trophäen gefragt, und ich habe die Vitrine aufgeschlossen, damit sie sie besser angucken konnte. Und dann hat Noah angerufen, ich habe mich entschuldigt, und sie ist gegangen.«
»Und nachdem sie weg war, hast du die Vitrine wieder abgeschlossen?«
»Sobald ich aufgelegt hatte.«
Lily blickte zu Boden. War es möglich, dass Emma Jans Trophäe gestohlen hatte, zusätzlich zu all den anderen Sachen, die sie bei Marshalls hatte mitgehen lassen? Aber warum? Warum sollte sie so etwas tun?
»Du denkst, deine Freundin könnte es getan haben?«, stellte Jan Lilys erste Frage laut.
Lily wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Aber sie würde es verdammt noch mal vor drei Uhr heute Nachmittag herausfinden. »Hör mal, glaubst du, du kommst eine Weile ohne mich zurecht?«, fragte sie Jan.
»Wohin gehst du?«
Lily öffnete die Eingangstür. »Ich hole deine Trophäe zurück.«
Was zum Teufel ging hier vor, fragte Lily sich, als sie zur Bushaltestelle rannte, wo ihr der Bus vor der Nase wegfuhr. Sie lief ihm ein Stück hinterher, gab jedoch auf, als deutlich wurde, dass der Fahrer nicht die Absicht hatte, zu bremsen
oder gar anzuhalten. Sie sah auf die Uhr. Der nächste Bus kam erst in einer Viertelstunde, weshalb sie entschied, dass sie zu Fuß wahrscheinlich schneller sein würde. Außerdem war es vermutlich sowieso besser, einmal tief durchzuatmen und sich ein wenig zu bremsen. Beim Laufen würde sie Zeit haben, sich abzuregen und ihre Gedanken zu ordnen. Es nützte niemandem, wenn sie wütend bei Emma hereinstürmte, ihr lauter Vorwürfe an den Kopf warf und Erklärungen verlangte. Hatte sie nicht aus bitterer Erfahrung gelernt, dass man mit reiner Konfrontation nichts erreichte? Wenn sie Antworten wollte, musste sie die richtigen Fragen stellen. Und wenn sie die Antworten verstehen wollte, musste sie diese Fragen äußerst behutsam formulieren.
Lily versuchte, sich die Szene vorzustellen, als würde sie den Aufbau einer Geschichte planen: Zwei junge Frauen begegnen sich und werden Freundinnen. Sie besuchen sich, passen gegenseitig auf ihre Kinder auf, trinken zusammen Wein und vertrauen sich Geheimnisse an. Dann entdeckt die eine der beiden, dass die andere sie in praktisch jedem Punkt belogen hat. Kurzum, ihre Freundin ist nicht die, die sie zu sein scheint. Was die Geschichte jedoch erst richtig interessant macht, ist die Tatsache, dass das Gleiche auch für sie gilt.
Lily wartete, dass die Ampel an der Stewart Street auf Grün sprang und überlegte, wie sich die Geschichte entfalten würde.
»Du kommst früh«, sagt Emma mit flackernder Panik in ihren großen blauen Augen. »Ich hab dich erst später erwartet.«
»Das konnte nicht warten.«
Nein, viel zu melodramatisch. Versuch es noch mal.
»Du kommst früh«, sagt Emma, offensichtlich beunruhigt vom unerwarteten Auftauchen ihrer Freundin. »Ich hab dich erst später erwartet.«
»Es ist etwas passiert.«
Emma sagt nichts. Sie sieht aus, als würde sie die Luft anhalten. In der Mitte von Emmas karg möbliertem Wohnzimmer stehen sich die beiden Frauen von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
»Eine von Jans Trophäen ist weg«,
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