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Traeume Suess, Mein Maedchen

Titel: Traeume Suess, Mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
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und die Rolle des Wächters und Beschützers übernahm, obwohl er kaum ein Jahr älter war als sie? Was war mit der üblichen Rebellion als Teenager, ihren Freundinnen und den Jungen, mit denen sie ausgegangen war? War irgendetwas davon relevant? Oder sollte sie gleich mit der ersten Begegnung mit dem Mann beginnen, der ihr Leben für immer verändern sollte, ihrer nachfolgenden Ehe und Kennys schrecklichem Tod? Gab es irgendeine Möglichkeit, die letzten fünf Jahre zu kondensieren, konnte sie irgendetwas sagen, was sie erträglicher oder verständlicher machen würde?
    »Zunächst mal war meine Ehe nicht das, wofür du sie hältst«, beginnt Lily.
    »Was war sie dann?«
    »Eine Katastrophe. Wie deine.«
    War es möglich, fragte Lily sich und ging weiter die Straße hinunter, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen, dass sie und Emma denselben Typ Mann gewählt hatten? Hatten sie sich deshalb zueinander hingezogen gefühlt?
    »Was redest du da? Du warst mit dem perfekten Mann verheiratet.«
    »Ich war mit einem Monster verheiratet.«
    »Erzähl«, fordert Emma sie auf.
    Aber wie konnte sie es erklären?
    Es war zu leicht, einfach zu sagen, dass jeder Fehler machte, obwohl diese schlichte Feststellung der Wahrheit wahrscheinlich ziemlich nahe kam. Nichts in ihrer Geschichte, nichts in ihrer Erziehung hatte das drohende Desaster angekündigt. Sie hatte wundervolle Eltern, einen älteren Bruder, den sie verehrte, Freundinnen, die sie liebte. Und dann hatte sie auf einer Party einen Mann kennen gelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Sie wurden ein Paar, sie wurde schwanger, sie heirateten. Und auch wenn ihre Eltern und Freunde ihre Bedenken hatten, war anfangs jeder bereit gewesen, diese Zweifel beiseite zu schieben, um
Lilys neuem Mann den Bonus rückhaltlosen Vertrauens zu schenken. Nur ihr Bruder war beharrlich geblieben in seinem Misstrauen gegenüber dem Mann mit dem entwaffnenden Lächeln.
    Und irgendwann war das Misstrauen in Verachtung umgeschlagen.
    Diese Verachtung hatte schließlich unerbittlich zu seinem Tod geführt.
    Auf einem Motorrad.
    »Moment, ich komme nicht mehr mit«, sagt Emma ungeduldig und läuft in ihrem kleinen Wohnzimmer auf und ab. »Ich dachte, dein Mann wäre bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.«
    Lily schüttelte den Kopf. »Ich habe gelogen. Es war nicht mein Mann, es war mein Bruder.«
    Mein Bruder, wiederholte Lily für sich und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Kenny war nicht einmal ein Jahr älter gewesen als sie, in vielerlei Hinsicht wie ein Zwillingsbruder, der ihr näher stand als irgendjemand sonst auf der Welt. Und er hatte sich in ungezügelter, blinder Wut auf den Weg gemacht, die frischen Blutergüsse an den Armen und im Gesicht seiner Schwester zu rächen, weil sie nicht länger die Kraft und die Lust hatte, sie mit einer beschwichtigenden Geste abzutun. »Ach, ich bin einfach ungeschickt. Ich bin ausgerutscht, ich bin gegen eine Tür gelaufen, ich bin über Michaels Spielsachen gestolpert.« Nicht nach einem Tag voller Streit und Drohungen, an dem sie endlich den Mut aufgebracht hatte, ihrem Mann zu sagen, dass sie die Scheidung wollte, worauf er erwidert hatte, dass sie eher in der Hölle verwesen würde. Und dann war aus dem Tag ein Abend geworden, er hatte seinen Drohungen mit Fäusten Nachdruck verliehen, aber selbst das hatte ihre Entschlossenheit, ihren Sohn zu nehmen und aus diesem Zerrbild einer Ehe zu fliehen, nicht erschüttern können, worauf er sie auf den Boden geworfen und mehrfach brutal vergewaltigt
hatte, während ihr Sohn die ganze Zeit im Nebenzimmer schrie. Als er fertig war, hatte er sie, weinend und blutend in Embryonalstellung zusammengerollt, auf den kalten Fliesen liegen lassen. »Du gehst nirgendwo hin«, hatte er gesagt.
    Sie hatte gewartet, bis er eingeschlafen war, bevor sie Michael genommen und ins Haus ihrer Mutter geflohen war. Kenny war auch dort, und ein Blick sagte ihm alles, was er wissen musste. »Bitte, Kenny. Tu nichts Unüberlegtes. Er ist es nicht wert«, hatte sie ihn angefleht. Aber Kenny war aus der Tür gestürmt, hatte sich auf sein Motorrad geschwungen und war in die verregnete Nacht hinausgerast.
    Bis heute konnte Lily das Geräusch der quietschenden Reifen im strömenden Regen von Miami hören, die Erschütterungen des schweren Motorrads spüren, als Kenny in einer glatten Kurve die Kontrolle über die Maschine verlor, von der Straße abkam und gegen eine riesige Palme prallte. Sie hörte ihre Mutter

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