Traeume Suess, Mein Maedchen
nicht gewusst hatte?
Du siehst nur, was du sehen willst, hörte sie ihre Mutter sagen.
Das Telefon auf Jamies Schreibtisch klingelte. Vielleicht war das Brad, dachte sie unwillkürlich. Es tat ihm Leid, dass er so früh aufgebrochen war, und er wollte es wieder gutmachen. Jamie holte tief Luft und nahm dann beim zweiten Klingeln ab. »Jamie Kellogg«, verkündete sie hoffnungsvoll. »Was kann ich für Sie tun?«
Aber statt Brads sanfter Stimme, die ihr Entschuldigungen ins Ohr flüsterte, hörte sie den nasalen New Yorker Akzent von Selma Hersh, die Jamie beschimpfte, weil sie sie am Vortag nicht wie versprochen zurückgerufen hatte.
»Es tut mir schrecklich Leid«, erklärte Jamie der Frau, während sie versuchte, sich zu erinnern, um wen es sich handelte, und den Namen in den Computer eingab, um die entsprechende Datei zu finden. »Ich hatte gestern Probleme mit dem Computer und konnte deshalb nicht auf die benötigte Information zugreifen.«
Selma Hersh schnaubte wütend. »Wann kriege ich denn endlich meinen Scheck?«, bellte sie.
Rasch überflog Jamie die Akte der Frau. »Wie es aussieht, haben wir nach wie vor nicht alle nötigen Dokumente, Mrs. Hersh.«
»Wovon reden Sie?«
»Wir brauchen ein ärztliches Attest, in dem die genaue Todesursache Ihres Mannes bescheinigt wird.«
»Sie haben doch eine Kopie des Totenscheins. Warum brauchen Sie noch mehr?«
»So sind die Bestimmungen, Mrs. Hersh. Wir brauchen etwas Schriftliches von dem Arzt, der den Tod Ihres Mannes festgestellt hat. Darauf muss die offizielle Todesursache genannt sein.«
»Er ist an einer Lungenentzündung gestorben.«
»Ja, aber wir brauchen trotzdem ein Schreiben. Mit dem Briefkopf des Arztes …«
»Mein Mann ist im JFK Memorial Hospital gestorben. Woher soll ich wissen, welcher Arzt ihn für tot erklärt hat?«
»Ich bin sicher, das Krankenhaus kann Ihnen bei der Beschaffung dieser Information behilflich sein.«
»Das ist doch lächerlich.«
»Es tut mir Leid, Mrs. Hersh. Wenn Sie uns die Bescheinigung zusenden, können wir den Scheck unverzüglich freigeben.«
»Das ist absurd. Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«
»Ich werde ihr sagen, dass sie Sie zurückrufen soll, sobald Sie ins Büro kommt.« Die Verbindung wurde abrupt unterbrochen. »Schönen Tag noch«, sagte sie, als das Telefon erneut klingelte. Jamie atmete tief ein und zwang sich zu einem Lächeln. »Jamie Kellogg.«
»Jamie. Hallo.«
Sie erkannte Tims Stimme sofort, obwohl sie ungewohnt leise klang. Sie fragte sich, ob er noch auf der Intensivstation lag, unter strenger Bewachung seiner Frau. Leg auf, dachte sie.
»Leg nicht auf«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Bitte, Jamie. Hör mich an.«
»Wie ich höre, lebst du noch«, sagte sie kühl.
»Es tut mir so Leid, Jamie«, setzte er mit zittriger Stimme an, als drohte er jeden Moment in Tränen auszubrechen.
Jamie schüttelte den Kopf und spürte, wie sie innerlich schwankte und versucht war, sich wieder einwickeln zu lassen. Schließlich waren sie mehr als vier Monate zusammen gewesen. Er war ihr Liebhaber, ihr Vertrauter und manchmal sogar ihr Freund gewesen. Und jetzt lag er im Krankenhaus, dem Tod knapp entronnen …
Was ist bloß mit mir los, schimpfte sie stumm mit sich und schlug mit der Faust auf die Tastatur des Computers, worauf der Bildschirm sofort leer wurde. Er war ein verheirateter Mann, Herrgott noch mal, und er hatte sie angelogen. Hatte sie denn gar keinen Stolz, keinen Selbsterhaltungstrieb? »Was tut dir Leid, Tim?«, fauchte sie und dachte dabei an Selma Hersh, von deren Schneid sie gerade jetzt ein wenig gebrauchen könnte, dachte sie. »Dass du mich angelogen hast oder dass du erwischt worden bist?«
»Beides«, gab er nach einer Pause zu.
»Was hat deine Frau dir erzählt?«
»Dass ich Besuch aus dem Büro hatte. Es war nicht allzu schwer, sich zusammenzureimen …«
»Lässt du dich scheiden?«, unterbrach Jamie ihn.
Es entstand eine weitere Pause, die etwas länger dauerte als die vorherige, bevor er sagte: »Nein.«
Arschloch, dachte Jamie. Wirklich ein verdammt guter Zeitpunkt, mir endlich die Wahrheit zu sagen.
»Das muss ja gestern Abend eine nette Begegnung gewesen sein«, sagte er leise lachend.
»Du Dreckskerl«, sagte Jamie langsam. »Du genießt das Ganze auch noch.«
Das Lachen schlug schnell in ein Hüsteln um. »Was? Nein, natürlich nicht.«
»Du fühlst dich geschmeichelt, du mieses Schwein.«
»Jamie, nun werde doch nicht
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