Traeume Suess, Mein Maedchen
kehrte zum Empfangstresen zurück. »Scully’s«, meldete sie sich mit falscher Fröhlichkeit. Es war wichtig, eine optimistische Fassade zu präsentieren und positiv zu klingen. »Ja, wir haben bis zehn geöffnet. Genau. Nein, ich fürchte, Sie müssen Mitglied werden, um unsere Geräte zu benutzen. Aber wir haben gerade ein spezielles Einführungsangebot … Hallo? Hallo?« Lily zuckte die Achseln und platzierte den Hörer wieder auf die Gabel, schon lange nicht mehr gekränkt, wenn jemand mitten im Satz auflegte. Die Leute waren schließlich beschäftigt. Sie hatten keine Zeit, ständig auf andere einzugehen, vor allem wenn ihnen bewusst wurde, dass sie das Angebot nicht interessierte. Sie hatte aufgehört, solch unhöfliches Verhalten persönlich zu nehmen, genau wie sie aufgehört hatte zu glauben, dass die zahlreichen Absagen bedeuteten, dass sie eine schlechte Schriftstellerin war. Lesen war eine subjektive Sache. Das hatte ihr Lesezirkel sie auf jeden Fall gelehrt. Was ein Mensch anregend und tiefgründig fand, war für einen anderen enttäuschend und schal. Man konnte es nicht jedem recht machen. Man sollte es gar nicht versuchen.
Lily beobachtete, wie Sandra Chan, eine attraktive Frau von Mitte bis Ende dreißig, vom Crosstrainer stieg und ein schmales weißes Handtuch um ihren ebenso schlanken Hals schlang und darauf wartete, dass ihre Freundin Pam Farelli auf dem Stepper fertig wurde. Wenige Minuten später
kamen die beiden Frauen in ein angeregtes Gespräch vertieft durch die Tür, die den Trainingsraum von dem kleinen Empfangsbereich trennte, und gingen durch eine weitere Tür hinter dem schwarzen Ledersofa in die kleine Umkleidekabine, ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung zu werfen. Für sie bin ich unsichtbar, dachte Lily. »Und das ist auch gut so«, erinnerte sie sich mit ihrer besten Martha-Stewart-Stimme.
Die Eingangstür ging auf, und herein kam ein kräftiger, leicht zerfurcht aussehender Mann mit schwarzen Haaren und gewaltigen Pranken, die aus den Ärmeln seiner Windjacke ragten. »Guten Morgen, Lily«, sagte er, während sie unter den Tresen griff, um ihm ein frisches Handtuch zu geben.
»Wie geht es Ihnen heute, Detective Dawson?«, fragte sie ihn wie jeden Montag, Mittwoch und Freitag, wenn der Kriminalbeamte zu seinem regelmäßigen 40-minütigen Training kam.
»Gar nicht schlecht«, kam die übliche Antwort. »Und es würde mir sogar noch besser gehen, wenn Sie sich heute Abend von mir zum Essen einladen ließen.«
Lily machte unwillkürlich einen Schritt zurück und wusste nicht, was sie sagen sollte. Dies war eine Abweichung von dem üblichen Geplänkel, und sie hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Nicht, dass sie Detective Dawson nicht attraktiv gefunden hätte. Das fand sie schon, seit er zum ersten Mal durch diese Tür gestürmt war, kurz nachdem sie bei Scully’s angefangen hatte. »Ist das Ihr weißer Impala? Der da draußen auf dem Behindertenparkplatz steht?«, hatte er gebellt. »Wenn ja, wird er nämlich gerade abgeschleppt.«
»Es ist nicht meiner«, hatte sie gestottert. »Ich habe kein Auto.«
»Nicht? Aber Sie haben ein schrecklich nettes Lächeln«, hatte er selber lächelnd rasch erwidert.
»Heute Abend ist mein Lesezirkel«, erklärte sie ihm jetzt.
Detective Dawson kniff seine dunkelblauen Augen zusammen und kräuselte seine zwei Mal gebrochene Nase, als ob er soeben auf finstere Machenschaften gestoßen wäre. »Ein Lesezirkel? Wie Oprahs Buchclub im Fernsehen?«
»Bis auf die Kamera und das siebenstellige Gehalt.« Lily lächelte, dachte, dass er sein Gewicht gut trug, und schüttelte ärgerlich den Kopf darüber, dass ihr das überhaupt auffiel. Eben weil sie ihn so attraktiv fand, konnte sie nie mit ihm ausgehen. Hatte sie nicht entschieden, dass dieser Teil ihres Lebens vorbei war? Sie hatte einen kleinen Sohn, an den sie denken, ein Leben, das sie neu aufbauen musste. Ein unschuldiger Flirt war eine Sache, aber sie hatte nicht die Kraft für alberne Kennenlern-Rituale, nicht die Zeit für die Launen der Singleszene, nicht die Geduld für die unvermeidliche Enttäuschung, nicht noch einmal die Kraft, solch eine Katastrophe durchzustehen, als alles um sie herum zusammenbrach.
»Wie wär’s dann morgen?«, fragte er.
»Morgen?«
»Halb acht? Bei Joso’s?«
Lily hatte noch nie in dem beliebten und teuren Restaurant in der Innenstadt gegessen, aber schon wunderbare Dinge darüber gehört. McDonald’s entsprach dieser Tage eher ihrem
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