Traeume Suess, Mein Maedchen
Geldbeutel. Und woher sollte sie auf den letzten Drücker einen Babysitter bekommen?
»Ich habe einen Sohn«, erklärte sie Jeff Dawson schlicht und suchte in seinem Gesicht nach einer Andeutung, dass ein solches Kombipaket mehr war, als er im Sinn gehabt hatte.
»Einen Sohn?«
»Michael. Er ist fünf.«
»Meine Töchter sind neun und zehn. Sie leben bei ihrer Mutter. Wir sind geschieden. Offensichtlich.« Er lachte verlegen. »Seit fast drei Jahren. Und Sie?«
»Verwitwet. Seit einem Jahr. Ein Motorradunfall«, stellte sie klar, bevor er fragen konnte.
»Das tut mir Leid.«
»Ich kann morgen Abend nicht mit Ihnen essen gehen«, sagte Lily.
Jeff Dawson nickte, als würde er verstehen. »Vielleicht ein anderes Mal«, sagte er leichthin und ging vom Tresen zum Trainingsraum, wo er beinahe mit Sandra Chan und Pam Farelli zusammenstieß, die fertig umgekleidet im Begriff waren zu gehen.
»Der ist aber süß«, sagte Pam vernehmlich, und Sandras Blicke folgten ihm. »Toller Trizeps«, fügte sie hinzu, als sie sah, wie der Detective seine Windjacke ablegte. Sein weißes T-Shirt spannte sich über einem muskulösen Oberkörper.
»Wir gehen immer zu früh«, schmollte sie. »Wer ist das überhaupt?«, fragte sie Lily, als ob sie ihre Anwesenheit in diesem Augenblick zum ersten Mal bemerken würde. »Ist er Stammkunde?«
Lily verspürte ein unerwartetes Stechen der Eifersucht und unterdrückte den Impuls, hinter ihrem Tresen hervorzukommen und die beiden Wilderer eigenhändig hinauszuwerfen. »Wie bitte?«, fragte sie stattdessen.
»Der Typ, der auf der Bank 200-Pfund-Gewichte stemmt, ohne auch nur ein bisschen zu schwitzen«, sagte Pam und wies mit dem Kinn auf den Trainingsraum. »Was wissen Sie über ihn?«
»Ist er verheiratet?«, fragte Sandra Chan.
»Ich weiß, dass er zwei Töchter hat«, sagte Lily und gab vor, mit irgendetwas unter dem Tresen beschäftigt zu sein. »Neun und zehn Jahre alt, glaube ich.«
Die Frauen zuckten gleichzeitig die Schultern. »Verdammt«, murmelte die eine.
»Die Guten sind immer verheiratet«, sagte die andere.
Nun, das war nicht direkt eine Lüge, dachte Lily, als die beiden Frauen die Eingangstür aufstießen und im strahlenden Sonnenlicht verschwanden. Er hatte zwei Töchter, die neun und zehn Jahre alt waren. Aber warum hatte sie den
Frauen nicht einfach die Wahrheit gesagt? Sie nahm ein schwarzes Zopfgummi aus ihrer Einkaufstasche und band ihr Haar zu einem festen Pferdeschwanz, bevor sie die gestapelten weißen Handtücher glatt strich, obwohl die bereits absolut makellos aussahen, nur um ihren Blick von dem Trainingsraum abzulenken. Sie wollte den attraktiven, nur wenig älteren Mann in dem engen weißen T-Shirt nicht sehen, der zweihundert Pfund auf der Bank stemmte, ohne in Schweiß auszubrechen. Das war das Letzte, was sie sehen wollte, das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Männer wie Jeff Dawson könnten sie in schwachen Momenten natürlich schon auf gewisse Gedanken bringen, doch wichtiger war, der Realität ins Gesicht zu schauen. Lily zog den großen wattierten Umschlag aus ihrer Einkaufstasche und legte ihn auf den Tresen. Zur Realität gehört auch das, dachte sie und zog ihre Geschichte und den Absagebrief heraus.
Sehr geehrte Ms. Rogers,
Das wäre wohl ich.
vielen Dank für die Einsendung der Geschichte »Die letzte Überlebende«.
Bescheuerter Titel für eine Geschichte. Ich hätte sie anders nennen sollen.
Wir fanden sie unterhaltsam und gut geschrieben,
Und was ist daran bitte sehr verkehrt?
sind jedoch der Ansicht, dass sie nicht die passende Lektüre für die Leserinnen der Zeitschrift »Woman’s Own« darstellt.
Warum nicht, verdammt noch mal? Was ist daran nicht passend?
Wir wünschen Ihnen viel Glück für eine Veröffentlichung in einem anderen Magazin
In welchem anderen Magazin?
und hoffen, dass Sie auch in Zukunft an uns denken werden.
Wohl kaum.
Mit freundlichen Grüßen...
»Von wegen freundlich«, sagte Lily laut und schob den Brief und die Geschichte wieder in den Umschlag. Das war erst mal genug Realität für einen Tag, entschied sie, und ihr Blick schweifte trotz ihrer besseren Vorsätze wieder zum Trainingsraum. Ada Pearlman, deren feines graues Haar im Nacken zu einer eleganten Rolle aufgesteckt war, lief im Tempo von etwa dreieinhalb Stundenkilometern auf dem Laufband, womit sie immer noch schneller war als Gina Sorbara, eine beinahe fettleibige Frau mittleren Alters, die auf ihrem
Weitere Kostenlose Bücher