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Traeume Suess, Mein Maedchen

Titel: Traeume Suess, Mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
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auch. Miss Kensit, seine Lehrerin, hatte ihr erklärt, dass Michael der künstlerisch begabteste Schüler in ihrer neunjährigen Berufslaufbahn war. Eines seiner Bilder, ein Wasserfarbengemälde einer Gruppe Rehe, die an einem Fluss zwischen Wildblumen grast, hatte sie sogar dem Direktor gezeigt, der einen goldenen Stern in die obere rechte Ecke geklebt und erklärt hatte, dass Michael eines Tages ein berühmter Künstler würde, von dem er dann sagen konnte, dass er ihn als kleinen Jungen gekannt hatte. Nun hing das Bild stolz an der Wand gegenüber von Michaels Bett, zwischen einer Kreidezeichnung von einem Jungen und seiner Mutter, die Hand in Hand über eine hohe Wiese rannten, und einem abstrakten Fingerfarbengemälde mit hellgrünen Kringeln, die beinahe vom Blatt zu wirbeln schienen.
    Lily ging von einer Wand zur anderen und betrachtete sorgfältig jedes Bild, als würde sie den Louvre besichtigen. Ein Bild zeigte eine Vase mit violetten und roten Blumen, ein anderes einen Jungen, der aus einem Flugzeug sprang, wobei der Junge zwei Mal so groß war wie das Flugzeug
und an einem großen Fallschirm zu Boden schwebte. Daneben hing eine Kohleskizze eines Jungen und seiner Mutter, die stolz vor einem kleinen dreieckigen Haus standen. Über dem Bett klebte ein Bild von einer Mutter, die ihren kleinen Sohn ins Bett brachte, während draußen vor dem Fenster der Vollmond lächelte. In Michaels Kunstwerken gab es keine Strichmännchen wie in den Zeichnungen der meisten anderen Kinder seines Alters. Die Menschen, die Michaels Welt bevölkerten, waren vollständig ausgeformt, wenngleich bisweilen zweifelhaft proportioniert. Einige hatten riesige Köpfe, andere so kleine wie Pillendöschen. Manche hatten gewaltige Pranken, andere Beine, die sich bis zu ihrem Hals streckten. Und noch etwas fiel Lily auf. In Michaels Bildern gab es keine Männer.
    Das war ihre Schuld.
    Lily nahm das Kopfkissen ihres Sohnes, hielt es sich vors Gesicht und atmete seinen süßen Duft ein. »Ich werde es wieder gutmachen, Michael«, flüsterte sie. »Versprochen.« Sie schüttelte das Kissen auf und legte es wieder aufs Bett, schaltete das Licht aus und ging die Treppe hinunter in die Küche, wo sie Eiscreme in eine große Dessertschüssel gab und sich an den Küchentisch setzte. »Ich kann nicht glauben, dass ich schon wieder esse«, sagte sie. Hatte sie Jeff nicht eben erklärt, sie wäre so satt, dass sie Essen nie wieder auch nur anschauen könnte. Von wegen. So viel zu dem Vorsatz, fünf Pfund abzunehmen, dachte sie und nahm sich vor, am nächsten Tag ins Studio zu gehen, obwohl es eigentlich ihr freier Tag war und sie Michael versprochen hatte, mit ihm ins Kino zu gehen. Vielleicht würde sie Emma fragen, ob sie und Dylan mitkommen wollten. Oder noch besser, sie würde anbieten, Dylan mitzunehmen, damit Emma einen freien Nachmittag hatte. Die arme Frau sah aus, als könnte sie eine Pause brauchen, und es war das Mindeste, was sie tun konnte. Es war schwer, ganz alleine ein Kind aufzuziehen. Vor allem einen Jungen. Noch dazu, wenn
man keine Ahnung hatte, was in ihren kleinen Köpfen vor sich ging.
    Nicht viel, würde Jan wahrscheinlich sagen und laut lachen. Jan hatte keine Kinder, telefonierte aber regelmäßig mit ihrem Neffen in Kalifornien.
    Wie würde Michael sein, wenn er älter wurde, fragte Lily sich. Würde er dann immer noch so zu ihr aufblicken wie jetzt? Würde er sie noch lieben, wenn er erst einmal alle Fakten kannte, wenn er alt genug war, das Unvorstellbare zu begreifen? Oder würde er sie zurückweisen und ihr die Schuld dafür geben, dass er in seinen prägenden Jahren keinen Vater gehabt hatte? Würde er bei der ersten Gelegenheit nach Europa abhauen und sie nur sporadisch von unbekannten Orten der Welt anrufen, sie immer weniger achten und immer mehr für alles verantwortlich machen?
    Lily genehmigte sich noch einen Löffel Eiscreme und dachte, dass es auf der ganzen Welt nicht genug Eis gab, um ihre Schuldgefühle zu lindern, und dass alle Doppelkinne der Welt nicht genug Falten hatten, um sich dahinter zu verstecken. Obwohl sie es natürlich versuchen konnte, sagte sie sich, löffelte weiter Eiscreme in sich hinein und genoss die Kälte an den Innenseiten der Wangen.
    Sie nahm Stift und Papier und begann, eine Reihe miteinander verbundener Herzen zu kritzeln. Als Kind hatte sie gemalt, erinnerte sie sich, obwohl sie nie besonders gut darin war. Nein, ihr Talent waren die Wörter. Sie liebte es, sich Geschichten

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