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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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lebte, konnte Helen so tun als ob. Oder vielmehr, sie konnte nicht anders, als so zu tun als ob. Aber jetzt, wo er weg war, brach dieser Mechanismus zusammen. Die alte Komplizenschaft verfiel von Tag zu Tag mehr. In manchen Momenten fällt es Helen jetzt schon schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen, in der Klinik, auf der Straße; es ist, als sei ein entscheidendes Schmiermittel ausgetrocknet, und jetzt kann sie sich nicht mehr bewegen. Sie erinnert sich daran, wie seine Umarmung erschlaffte, sie spürt noch einmal, wie seine Wange an ihrer kühl wurde. Warum wollte er sterben? Warum durch mich? Mit Alberts Tod fing ein begrabenes Wissen an zu faulen. Das ist etwas, das man nicht einfach einäschern und verstreuenkann. Sie muss alles noch einmal durchgehen. Warum sonst hatte sie angefangen, mit Paul zu reden?
    Dennoch war Helen aus reiner Gewohnheit nicht in der Lage, sich an den Ort zu begeben, den Albert und sie so bewusst und erfolgreich gemieden hatten. »Die stärkste Komplizenschaft«, hatte Albert zum Thema Klimawandel geschrieben, »ist die des gemeinsamen Leugnens.« Es gab Dinge, die wusste Helen genau, Dinge, die sie körperlich spüren konnte – warum sie und Albert überhaupt zusammengekommen waren, warum sie ihr Leben lang im Ausland gelebt hatten –, und ihre Gedanken kreisten immer wieder um diese Dinge; das ließ sich einfach nicht vermeiden, angesichts des Sogs, den sie entwickelten; aber sie weigerte sich, sich auf sie einzulassen und sie zu erkunden, sie wollte sie auf keinen Fall ausgraben und beim Namen nennen. Deshalb hatte sie sich entschlossen, über Albert mit dem einen Menschen zu sprechen, mit dem sie nicht wirklich sprechen konnte, nicht offen, denn er würde natürlich alles niederschreiben, was sie ihm erzählte. Und dann würde ihr Leben seinen geheimen Sinn verlieren, die Einzigartigkeit, die ihre seltsame Ehe ihm verliehen hatte; dann würde sie nackt vor ihrem Sohn stehen, von dem weder sie noch Albert in den Tagen, in denen sein Tod beschlossen wurde, gesprochen hatten.
    Anstatt also freimütig alles zu erzählen, hatte sie darauf bestanden, dass Paul sein Buchprojekt aufgab, dass er seine Aufmerksamkeit auf sie richtete statt auf Albert, dass er den Reiz und die Überlegenheit eines Lebens im Dienste anderer verstand: ihres Lebens, nicht Alberts. Wenigstens diesen alten Streit würde sie endlich gewinnen. Sie hatte den Biografen mit interessanten Einzelheiten gereizt und ihn zugleich entmutigt; sie hatte seine Neugier geweckt und ihm zugleich erklärt, dass seine Biografie sinnlos war. Sie hatte ein Mysterium erschaffen, ohne ihm den Schlüssel zum Verständnis mitzuliefern. Was waren Alberts abstrakte, gequälte Überlegungen, hatte sieandeutungsweise gesagt, verglichen mit dem Lächeln eines Bettlerjungen, der dem Tode entronnen ist, einem Mädchen mit Hepatitis, das wieder rote Wangen bekommt? Und sie hatte ihren Körper eingesetzt, alle Reize, die noch vorhanden waren. Warum sich über den toten Mann Gedanken machen, wenn die Witwe noch zu gebrauchen ist?
    Das alles hatte sie definitiv gemacht, auch wenn es nicht geplant gewesen war. Sie war keine berechnende Frau. Die Naivität des Mannes hatte sie dazu ermuntert. Und seine Tollpatschigkeit. Paul hatte absolut keine Ahnung. Er war vollkommen unbedarft. Aber sie hatte überhaupt nicht erwartet, dass der Amerikaner einverstanden sein, gar kapitulieren würde; sie hätte nie damit gerechnet, ihn mit seiner affektierten, rauen Stimme sagen zu hören: »He, übrigens, Helen, ich nehme deine Einladung an. Weißt du noch? Ich würde gerne mit dir an einen entlegenen Ort fahren, um dort gemeinsam zu arbeiten, wenn das wirklich infrage kommt.«
    »Wie bitte?«
    Sie waren gerade beim Mittagessen. Helen war morgens in die Klinik gegangen, aber der Staubsturm hatte die Kranken vom Kommen abgehalten. Es waren nur sehr wenige Patienten da. Wenn der Strom des Leids abriss, wusste Helen nicht, was sie tun sollte. Sie war zwei Stunden lang in der Klinik herumgelaufen, hatte ihre bettlägerigen Patienten besucht und einmal mehr versucht, mit Than-Htay zu reden. Dem Jungen ging es kaum besser. Die Infektion hatte teilweise auf die Medikamente angesprochen, die sie für ihn aufgetrieben hatte, aber seine Lebenskraft war nicht zurückgekehrt. Da er nicht krank genug war, um ein Bett zu erhalten, durchstreifte er die Klinik wie ein Gespenst, stand in Durchgängen herum, schlief im Schatten auf dem Hof, knabberte in der Kantine an einem

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