Traeume von Fluessen und Meeren
geführt als in Europa.«
Der Amerikaner erzählte daraufhin von der Zeit, als er über die Auseinandersetzung zwischen islamischen und hinduistischen Fundamentalisten vor dem Tempel berichtet hatte, der auf Krishnas Geburtsstätte steht und natürlich nur einen Steinwurf – und Steine wurden reichlich geworfen – von einer wichtigen Moschee entfernt ist. Zwei Mal war er selber in die Schusslinie geraten.
»Und da ich gerade Gesten des Gebets und der Brautwerbung gelesen hatte«, erklärte er Helen, »dachte ich die ganze Zeit, was würde Albert James wohl von all dem hier halten, verstehen Sie? Er hätte das der Auseinandersetzung zugrunde liegende Muster erkannt. Wenn ich seine Texte gelesen habe, war ich oft erstaunt, dass er sich in solchen Situationen nie als Vermittler angeboten hat.«
Helen starrte ihn an. »Der größte Fehler, den die Leute mit Albert machen«, sagte sie entschieden, »ist die Vorstellung, er habe sein Denken in irgendeiner Weise als ›nützlich‹ empfunden. Das ist ganz falsch.«
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte der Amerikaner unbekümmert. »Ich weiß, dass er so dachte. Aber seine Ansichten haben mein Leben verändert. Vielleicht war es nicht sein Ziel, nützlich zu sein oder etwas zu verändern, aber er hat es getan. Auch Gedanken haben eine Wirkung. Oder vielleicht ist das nur ein lexikalisches Problem«, sagte er grinsend. »Ich meine, was bedeutet nützlich? Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?«
»Aber nein«, sagte Helen. Sie konnte Zigaretten nicht ausstehen.
Ein Kellner erschien aus dem Nichts mit einem Feuerzeug. »Oh, vielen Dank!«, rief Paul Roberts. »Das nenne ich nützlich!«, sagte er lachend. Er wirkte jetzt fast unanständig locker. Er zog mit vollen, fleischigen Lippen an der Zigarette. Plötzlich verfinsterte sich seine Miene: »Mrs. James, ich weiß, ich sollte nicht fragen, aber das Thema quält mich. Ich meine die Tatsache, dass ich eine Korrespondenz mit einem großen Mann geführt habe, der sterbenskrank war, davon aber nie ein Wort erwähnt hat. Darf ich Sie fragen, hat er seine Maxime der Nicht-Einmischung so weit getrieben, dass er medizinische Behandlung abgelehnt hat? Ist es deshalb so gekommen? Bitte verzeihen Sie meine erneute Indiskretion.«
Sie bemerkte, wie schnell der Mann zwischen Naivität und Scharfsinn wechseln konnte, wie er einen Sympathiebonus aufbaute, um dann davon zehren zu können. Ganz langsam antwortete sie: »Das kommt darauf an, was sie unter Behandlung verstehen. Ein lexikalisches Problem.«
»Touché«, sagte Roberts.
Und noch einmal schlug Helen vor: »Ich glaube, Sie sollten bei seinem Bruder John anfangen, und bei seinem Vater.«
Paul Roberts hörte eine Weile respektvoll zu, während sie die Umstände schilderte, die zu John James’ Selbstmord geführt hatten. Es war eine alte Geschichte. »Und Sie selbst?«, fragte er schließlich.
»Wie bitte?«
»Sie selber, Mrs. James. Sie sind sicherlich die wichtigste Beziehung in Alberts Leben, nicht wahr? Dreißig gemeinsame Jahre, wenn ich recht informiert bin? Vielleicht sollte ich bei Ihnen anfangen.«
Helen biss sich auf die Lippe. Sie trank aus. »Ich habe Albert verehrt und hatte das Glück, ihm einige Dinge ermöglichen zukönnen. Im Gegenzug war er der treueste und faszinierendste Partner, den eine Frau sich wünschen kann.«
Kurz darauf, als sie aufstand, um zu gehen, fragte Paul Roberts sie, ob sie wüsste, wo er eine gewisse Sharmistha Puri finden könnte, mit der Albert anscheinend gearbeitet hatte. »An irgendeinem Spinnenprojekt.«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Helen zu ihm.
6
Ellie, diese Reise ist total frustrierend. Mit Mum habe ich kaum gesprochen, Dad habe ich nicht gesehen, und morgen Abend fliege ich schon zurück. Ein paar Leute von der Uni in Delhi haben mich eingeladen, vorbeizukommen und mir ihr Projekt anzuschauen (irgendwas mit Spinnen!), in das Dad involviert war, aber Mum bestand darauf, dass ich nach Agra gefahren werde, um das Taj Mahal zu sehen. Während sie arbeitet natürlich. Anscheinend wollte er das so. Dad war der Meinung, die einzig akzeptable Art der Kommunikation bestünde darin, den Leuten Botschaften durch laterales Denken zukommen zu lassen. Also soll ich jetzt dahin gehen und herausfinden, was Dad mir sagen oder zeigen wollte. Die Geschichte geht so, dass im 17. Jahrhundert eine dunkle Prinzessin, wunderschön, treu und so weiter und so fort, im Kindbett gestorben ist und ihr Sultan-Ehemann für sie ein
Weitere Kostenlose Bücher