Traeume von Fluessen und Meeren
gigantisches weißes Mausoleum bauen ließ. Mögliche Botschaften: Sultan und Frau waren Mum und Dad … in dem Fall: Wer oder was wurde bei der Geburt getötet? Ähm … alles meine Schuld? Oder: Ja, den Reichen und Mächtigen kann Unglück widerfahren, aber Fortschritte in der Geburtshilfe hätten uns eines großartigen architektonischen Werkes beraubt. Dum-di-dum. Und ich denke: Wieso hat Dad mir keinen Abschiedsbrief geschrieben? Wieso hat er mich nicht angerufen, verdammt noch mal? Ich bin stocksauer; ich glaube, mir wird schlecht. Irgendetwas stinkt hier. Mum wird seine Asche in irgendeinen Fluss streuen – total primitiv –, aber dann bin ich schon wieder weg.
John hielt inne. Es war äußerst ungewöhnlich für ihn, einfach so aus dem Bauch heraus zu schreiben. Abgesehen von den kleinen elektrischen Ventilatoren, die über jedem Arbeitsplatz hingen, hätte der überfüllte Raum auch ein Internetcafé in der Edgware Road sein können. Die Leute sahen ganz ähnlich aus, sie waren konzentriert, ganz woanders, hatten eingewickeltes Essen dabei, hoben und senkten den Kopf zwischen Tastatur und Bildschirm.
Toll, dass du den Anruf vom Theater gekriegt hast, besonders nachdem du das Gefühl hattest, es wäre schlecht gelaufen.
Er hielt erneut inne. Seine Freundin hatte drei oder vier SMS hintereinander geschickt: Man hatte sie angerufen, sie hatte sich mit dem Regisseur getroffen; er war eigentlich ganz okay, im Grunde sogar ziemlich nett. John hatte wieder das Gefühl, im falschen Teil der Erde zu sein. Sein Körper schien diese geografische Verlagerung ganz akut zu spüren.
Er tippte mit zwei Fingern. Er wollte schreiben, wie sehr er sich darauf freute, wieder mit ihr zu schlafen. Dann stockte er. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er lieben oder ficken schreiben sollte. Sie benutzten eine Art banalen Code: der kahle Ritter wird sich wieder einmal erheben, um der bärtigen Dame die Ehre zu erweisen und so weiter. Es war kindisch und blöd, aber auch vertraut und kuschelig. Er sehnte sich danach, in diese Vertrautheit zurückzukehren. War es wirklich nötig gewesen, zur Bestattung seines Vaters zu kommen? Er stellte sich vor, wie Elaines geschmeidiger Körper sich seinem hingab, die reine Wonne; und dann den ganzen Tag im Labor, mit der Zentrifuge, dem Computer, dem großen Kühlschrank voller Proben. Das war das Leben, das einen Sinn ergab. John brach ab, öffnete ein weiteres Explorer-Fenster, lud Google und tippte »Albert James Anthropologe« ein.
Der Bildschirm füllte sich mit Einträgen. Die meisten schienen sich auf uralte Artikel in obskuren Zeitschriften zu beziehen. Nichts Aktuelles. John spürte eine seltsame Beklemmung, als er die Einträge überflog. Das war das, was von seinem Vatergeblieben war. Virtuelle Fragmente, die jahrzehntelang hier im Netz herumschweben konnten, noch lange nachdem seine Asche ins Meer getragen worden war. Im Netz altert und verwest nichts. Auf der dritten Seite fand er: »James, Albert: Die Ursprünglichkeit der Sünde , Vortrag vor der Theosophischen Gesellschaft, Zürich 1989.« John dachte an Dr. Coom-sowieso, klickte den Eintrag an und scrollte abwärts:
»Und siehe, die Welt war symmetrisch«, las er, »und dadurch weitgehend redundant. Jedes Tier hatte seinen Partner. Das Weibliche ließ sich vom Männlichen ableiten, und das Männliche vom Weiblichen. Jedes Lebewesen wuchs zu seiner notwendigen Gestalt heran. Es war eine Welt der gespiegelten Formen. Darum wird sie auch Garten genannt. Ihre symmetrische Natur löschte die Zeit aus. Jedes Element spiegelte seine andere Hälfte in vollkommenem Stillstand.«
John scrollte schnell durch den Text. Dad hatte offenbar schon vor Beginn der neunziger Jahre den Blick fürs Wesentliche verloren. Er schaute auf seine Armbanduhr. Sein Fahrer würde jeden Moment kommen, um ihn abzuholen.
»… in der offiziellen Version hat natürlich die Schlange den Menschen mit dem Versprechen der Erkenntnis verführt. Das ist wohl die größte Finte der Geschichte. Oder vielmehr, es ist die Finte, welche die Geschichte erst möglich macht. Überlegen Sie mal, meine Damen und Herren: das eigentliche Vergehen bestand wohl kaum darin, den Apfel zu essen, um Erkenntnis zu gewinnen. Warum sollten wir uns dafür schämen, nach Erkenntnis zu streben? Nein, die Sünde bestand darin, den Apfel zu essen – daran zu denken , einen Apfel zu essen – aus einer Motivation heraus, die gar nichts mit Äpfeln zu tun hatte, der nicht reiner Appetit
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