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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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wüsste gerne, warum er sich ausgerechnet für Spinnen interessiert hat.« Er lachte. »Vielleicht ist er gar nicht an Krebs gestorben. Vielleicht wurde er von einer Tarantel gebissen.«
    Elaine fragte, ob er immer noch diese seltsamen Träume hatte von dem Sarg im überschwemmten Labor. Hatte er nicht. »Weißt du, Dad hat nie ein Auto besessen«, erzählte er ihr, »er hatte nicht mal den Führerschein.« »Na und?«, fragte sie. »Er sagte immer, Autofahrer seien in einer Killer-und-Opfer-Logik gefangen, sie jagten sich gegenseitig durch ein Netz von Straßen.« »Dein Vater war verrückt«, erklärte sie. »Bestimmt hat er sich von deiner Mutter herumchauffieren lassen.« »Meine Eltern haben immer an Orten gelebt, wo man sich Taxis leisten konnte«, erklärte John. »Sofern es dort Straßen gab.«
    »Kann ich Sie per E-Mail erreichen?«, schrieb er an Ananya. Wie immer traf die Antwort erst ein paar Tage später ein. Sie hatte keine E-Mail-Adresse. »Ich würde Sie gerne kennen lernen«, schrieb sie noch einmal. »Sind Sie in Delhi?« Er behielt ihre Nachrichten im Speicher und las sie immer wieder. »Ich war mit ihrem Vater befreundet. Mein Name ist Ananya.« »Ich würde Sie gerne kennen lernen.« »Ich habe kein E-Mail.« Das war nicht viel. John schrieb eine E-Mail an seine Mutter: Er habe Granny Janet besucht, schrieb er, und sie habe ihm Geld gegeben. Natürlich hat sie dich die ganze Zeit schlechtgemacht. Übrigens, Mum, kennst du eine Ananya, die in Delhi lebt?
    Er las noch einmal durch, was er geschrieben hatte: »die in Delhi lebt« war sehr ungenau. Er dachte daran, wie Mutter am letzten Abend zu Hause endlich ihren Gefühlen freien Lauf gelassen hatte: »Ich kann nicht fassen, dass er nicht mehr da ist, John. Ich kann es einfach nicht fassen.« Sie hatte das gesagt, als könne sie es im wahrsten Sinne des Wortes nicht fassen. Sieschauspielerte kein bisschen. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, wer ich bin«, hatte sie gesagt.
    Er schickte die E-Mail nicht ab. Aber John fand es unerhört, dass seine Mutter sich nicht noch einmal gemeldet hatte, um sich zu erkundigen, wie es ihm ging, ob er Geld aufgetrieben hatte oder ob er auf der Straße schlief. Er stellte sich vage die Frage, was wohl aus ihr werden würde. Sie würde in einem fremden Land alt werden und sterben. Und wenn sie krank wurde? Sie würde niemals um Hilfe bitten. Vielleicht wird nicht mal jemand da sein, der ihn informiert, wenn sie stirbt. Spielen solche Dinge eine Rolle? Elaine sagte, sie würde zu gerne nach Delhi fliegen, um seine Mutter kennen zu lernen. Er konnte sich nicht vorstellen, wann sie dafür die Zeit finden wollte, sagte er säuerlich, zuerst musste sie ständig proben, und danach wurde das Stück ja im Theater aufgeführt.
    »Wie du meinst«, sagte sie.
    Dann kam der Augenblick, wo er nicht mehr widerstehen konnte. Es war etwas Körperliches, oder jedenfalls fühlte es sich körperlich an. Gegen Ende Mai. Aber eigentlich besteht kein Unterschied, erkannte John jetzt, zwischen körperlichen und geistigen Dingen. Er fuhr nach Heathrow, kaufte sich ein Ticket, und ein paar Stunden später war er in der Luft. Er hatte noch 600 Pfund von Granny Janets Geld übrig.

15
    Kurz nach Mittag erwachte John im Hotel Govind. Er hatte einen trockenen Mund von der Klimaanlage, und im Zimmer schwirrte eine Mücke herum. Er kratzte sich am Knöchel. Es war seltsam, dachte er, in derselben Stadt zu sein wie seine Mutter, ohne dass sie davon wusste. Dann erinnerte er sich und griff schnell zum Telefon. Es war noch eine Nachricht von Elaine gekommen. »Erst willst du mich heiraten, und dann bist du plötzlich auf und davon. Was soll ich davon halten? Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.«
    John musste etwas essen. Er ging nach draußen, entdeckte ein zur Straße hin offenes Restaurant und setzte sich. Es machte ihn nervös, dass er der einzige Weiße war und von ganzen Gruppen junger Männer angeschaut wurde. Es waren nur Männer da; sie beugten die Köpfe über Schalen aus Alufolie. »Etwas Dhal«, sagte er. »Bitte. Ein Chapatti. Lammfleisch. Eine Flasche Wasser.« Es ist Wahnsinn, dass ich hier bin, sagte er sich. Die Hitze war drückend. Granny Janet hatte recht, wenn sie sagte, es sei Wahnsinn, sein Leben weit weg von zu Hause zu verbringen. Es gibt einen Ort, an dem alles einen Sinn ergibt, und es gibt alle anderen Orte. Ventilatoren bliesen ihm durch Gitterstäbe Luft zu. Aber John hatte kein Zuhause. Hatte nie eins gehabt.

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