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Traeume von Fluessen und Meeren

Traeume von Fluessen und Meeren

Titel: Traeume von Fluessen und Meeren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Parks
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Höchstens das Labor. »Ich wohne im Hotel Govind in der Nähe der Bhavbhuti Marg«, schrieb er an die Nummer. »Bitte melden Sie sich.«
    Er fühlte sich zugleich teilnahmslos und angespannt. Es warseltsam, dass er in seiner Kindheit so viele Länder besucht hatte, ohne je viel über sie zu erfahren. Chikago hatte ihm sehr gut gefallen, aber ehe er Gelegenheit bekam, die Stadt richtig zu entdecken, waren seine Eltern schon wieder weggezogen. Konnte es sein, fragte sich John jetzt, dass die Beziehung seines Vaters zu dieser Ananya irgendwie anrüchig gewesen war? Die perfekte Ehe seiner Eltern war die Grundlage des Familienmythos der James’, der Fixpunkt bei all ihrem Umherziehen. Vorbildlicher als ihre konnte eine Partnerschaft nicht sein. Partner auf Wanderschaft, sagte Mutter lachend. Wie sollte John je eine Beziehung aufbauen, die mit ihrer mithalten konnte?
    Das Essen war gut. Anschließend spazierte John durch die Straßen. Es war viel zu heiß. Er trug jetzt Shorts und Sandalen; er fand es erstaunlich, dass die Inder bei dieser Hitze Socken und Schuhe und lange Hosen trugen. Er brauchte Wasser. An einer Kreuzung sah er, wie ein kleines Mädchen Flöhe aus dem Haar ihrer Mutter klaubte, während die Frau im Schmutz saß und eine Trommel schlug. Das Mädchen hockte da und verlagerte ihr Gewicht von einer Hüfte auf die andere, während sie die einzelnen Haarsträhnen der Mutter hochhob und nach den Flöhen griff. Die Frau schlug lustlos einen Takt auf ihrer Konga. John bückte sich und warf eine Münze auf das Stück Sackleinen, das neben ihr lag.
    Erst am dritten Morgen erhielt er eine Nachricht. Sie war schon eingetroffen, als er aufwachte. »Kommen Sie zur Brücke am Roten Fort. Um sechs Uhr. Ich habe Fahrrad.«
    Aber jetzt hatte John Durchfall. Vielleicht weil er sich die Zähne mit Leitungswasser geputzt hatte. Er rief an der Rezeption an, und man brachte ihm Tabletten, Bananen und Wasser in Flaschen. Er verbrachte den größten Teil des Tages auf dem Klo und wusch und wusch sich. »Was für ein Schlamassel«, murmelte er.
    John ärgerte sich zunehmend, dass er gekommen war. Etwashatte ihn gegen seinen Willen hierhergezogen, an einem unsichtbaren Faden, der Tausende von Kilometern lang war. Sein Spinnenvater hatte ihn gesponnen und ihn damit an einen Ort gelockt, an dem nichts einen Sinn ergab. Ich habe nie besonders an meinen Eltern gehangen, dachte er, und jetzt werfe ich alles über den Haufen, was ich mir erarbeitet habe, nur um etwas über einen Mann zu erfahren, der in seinem Leben rein gar nichts zustande gebracht hat. Warum warte ich nicht einfach auf die Biografie? dachte er und lachte bitter. Um fünf verließ er das Hotel.
    Er hatte eigentlich zu Fuß gehen wollen. Es waren keine zwei Kilometer, dachte er. Aber schon nach hundert Metern geriet er ins Taumeln. Er kam nach Alt-Delhi. Die vollen Bürgersteige und der hektische Verkehr waren sehr anstrengend. Ihm wurde flau im Magen. Alles drehte sich.
    »Brauchen Sie Hilfe, Sir?«
    Sofort hatte jemand ihn am Ellbogen gepackt.
    »Hallo Sir! Wo wollen Sie hin?«
    Der Inder war etwa Anfang vierzig und hatte dunkle, karamellfarbene Wangen und einen vollen Haarschopf. Eins seiner Augen war reglos und tot, aber das andere blickte sehr lebhaft. Er lächelte ununterbrochen und wackelte mit dem Kopf, sodass sein dickes schwarzes Haar schaukelte.
    »Bitte Sie kommen mit mir, Sir!«
    John wollte abwehren, aber kurz darauf saß er hoch oben auf einer Fahrradrikscha.
    Er war noch nie mit einer echten Rikscha gefahren. Er hatte es auch nie vorgehabt. Es kam ihm irgendwie unanständig vor, dass dieser kleine Mann mit seinen dünnen Waden sich abmühte, ihn vorwärts zu ziehen. John hielt sich den Bauch, während er den gärenden Müll auf den Straßen betrachtete.
    Weil der Fahrer ihn für einen Touristen hielt, fuhr er einen Umweg, um am Chandni-Chowk-Markt vorbeizukommen. Die Rikscha fuhr im Marktgetümmel nur Schritttempo. Händlerpriesen lautstark ihre Waren an, Perlenketten und Fächer wurden ihm vor die Nase gehalten.
    John fühlte sich benommen. Als das Rote Fort in Sicht kam, ein massiver, abschreckender Koloss am Ende der Straße, da verstand John plötzlich den Reiz einer strengen islamischen Ordnung. Ich brauche einen ummauerten Ort, dachte er, wo es still ist, wo man in Ruhe nachdenken und arbeiten kann. Die Muslime waren einmal große Wissenschaftler gewesen, fiel ihm ein. Oder? Sie schufen künstliche Räume. Mit – wie hieß es noch gleich –

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