Traeume wie Samt
Das Leben gibt uns diese Möglichkeit nicht. Ich selbst habe das auf harte Weise lernen müssen. Laß die Vergangenheit ruhen.«
»Ich glaube nicht, daß ich das kann. Nicht völlig und für immer.«
»Dann teile deinen Schmerz mit mir.« Molly nahm alle Kräfte zusammen. »Erzähl mir, was wirklich an dem Tag geschah, als deine Eltern ermordet wurden.«
»Du willst es bestimmt nicht hören.«
Molly wußte nicht sicher, ob sie das Recht besaß, ihn weiter zu drängen, aber etwas in ihr trieb sie, hartnäckig zu bleiben, obwohl ihre Frage ganz offensichtlich nicht willkommen war. »Du hast gesagt, es wäre damals zu spät gewesen, deine Eltern zu retten.«
»Verdammt zu spät.« Ohne Vorwarnung strömte eine Flut von Zorn und Schmerz aus ihm. Es war, als wäre irgendwo in seinem Inneren ein Damm gebrochen. »Genau wie gestern. Da war ich auch zu spät. Immer zu spät.«
Molly umarmte ihn heftig. »An dem Tag, als deine Eltern starben, bist du mit einer Harpune nach unten gegangen.«
»Hat Josh dir auch davon erzählt?«
»Ja.« Molly hob den Kopf, um sein Gesicht abzusuchen. Seine Augen glitzerten. »Du wärst beinahe selbst getötet worden, nicht wahr?«
»Sie sahen mich, als sie aus der Höhle kamen.« Die Worte klangen, als würden sie dem äußersten Rand des Hades, einer Region unerträglicher Kälte entspringen. »In diesem Augenblick wußte ich, was passiert war. Sie kamen direkt auf mich zu. Den ersten Mann habe ich mit der Harpune getötet. Der andere schoß auf mich, bevor ich nachladen konnte, aber er traf nicht. Doch er hatte ein Messer. Er zog es aus einer Scheide, die er an der Ferse trug, und durchschnitt meinen Luftschlauch.«
»O Gott, Harry …« Molly hielt ihn noch fester.
»Auch ich hatte ein Messer. Dad hatte es mir geschenkt. Damit habe ich den Mistkerl getötet. Aber meine Luft reichte nicht mehr. Ich nahm dem Toten das Tauchgerät ab. Damit bin ich in die Höhle zu meinen Eltern hinuntergeschwommen. Es war zu spät. Beide waren schon tot.«
Tiefes Schweigen breitete sich aus. Molly hielt Harrys Gesicht zwischen den Handflächen. Sie spürte, daß die Geschichte noch nicht zu Ende war, auch wenn sie nicht wußte, was es noch zu erzählen gab. Aber Harry mußte alles sagen. Es war wichtig. Als würde sie über ein Minenfeld gehen, tastete Molly sich vorsichtig voran. »Du hast gesagt, du hättest sofort nach deiner Ankunft gewußt, daß eine Gefahr drohte. Daß etwas Furchtbares geschehen war.«
Harry blickte an Molly vorbei in die Nacht hinter dem Fenster. »Ich sah das zweite Boot, das neben dem meiner Eltern ankerte, und berührte den Schiffsrumpf. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte einfach nicht.«
»Ich verstehe.«
»Ich fand meine Eltern und brachte sie an die Oberfläche zurück. Mir schien, als könnte ich nicht atmen. Obwohl mein Lufttank halbvoll war.« Harry rieb sich mit der Hand die Augen. »Und das Wasser war seltsam rot gefärbt. Ein Effekt der späten Nachmittagssonne, denke ich. Aber es sah aus wie Blut.«
»Es muß unerträglich gewesen sein.«
»Ja.«
»Kein Wunder, daß du noch immer davon träumst. Harry, du konntest das Leben deiner Eltern nicht retten. Aber du darfst nie vergessen, daß dein Vater deines gerettet hat.«
Harry riß sich von der Dunkelheit draußen los und sah mit verwirrtem Stirnrunzeln zu Molly hinunter. »Wie meinst du das?«
»Dein Vater hat dich gelehrt, mit dem Messer umzugehen, nicht wahr? Und er hat dir eins geschenkt, das du bei dir tragen konntest. Das Messer, das du an jenem Tag benutzt hast.«
»Er hat mir alles beigebracht, was er wußte. Nur aus diesem Grund habe ich den Kampf überlebt.«
»Die Fähigkeiten, die dein Vater dich gelehrt hat, haben dir damals das Leben gerettet. Genau wie das mechanische Spielzeug, das mein Vater für mich gemacht hat, heute nachmittag mein Leben gerettet hat.«
Für einen Augenblick schwieg Harry. »Ja.«
»Manchmal ist es gut, sich an solche Dinge zu erinnern, Harry. Wir sind alle miteinander verbunden. Einmal retten wir andere. Ein anderes Mal retten sie uns. So ist das Leben. Keiner von uns kann immer nur Retter sein.« Harry sagte nichts. Aber er entzog sich ihrer Umarmung nicht. »Dein Vater hat seine Verantwortung erfüllt, als er dich die Dinge lehrte, die du wissen mußtest, um in jenem furchtbaren Augenblick zu überleben.«
»Molly, ich weiß nicht, was du hier versuchst, aber wenn du vorhast, mir eine Lektion in Amateurpsychologie zu erteilen, vergiß es.« Sein Mund verzog
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