Traeume wie Samt
mußte es riskieren. Das Bedürfnis nach einer Antwort war stärker als die entsetzliche Angst, wahnsinnig zu werden.
Er tauchte tief in sein Unterbewußtsein hinab. Ihm war, als würde er in einer wirbelnden Leere verschwinden, während er sich auf einen Ort am äußersten Ende des Universums zubewegte. Das Kunststück bestand darin, nicht zu weit in die Dunkelheit hineinzutreiben, denn irgendwo wartete der Abgrund auf ihn. Die Konzentration wurde so ausschließlich, daß er seine Umgebung nicht mehr wahrnahm. Er hatte das Wohnzimmer verlassen und war zu einem Teil der Nacht draußen vor seinen Fenstern geworden. In seiner Handfläche brannte das Metallstück. Etwas in ihm stieß einen stummen Schrei aus, doch die Warnung richtete sich nicht gegen das Teil in seinen Fingern. Sie galt den gefährdeten Ankern in Harrys Bewußtsein, inneren Barrieren, die er über Jahre hinweg aufgebaut hatte, mehr von seinem Instinkt als von der Vernunft geleitet.
Erst mit weit über Zwanzig hatte er zu verstehen begonnen, daß er versuchte am Rand des Abgrunds eine Mauer zu errichten. Er hatte gute Arbeit geleistet, obwohl er keinen Plan besessen hatte, nach dem er hätte vorgehen können. Mit den Jahren war es ihm gelungen, die verbliebenen Reste seiner phänomenalen Konzentrationsfähigkeit zu kontrollieren, die sein Geist noch erzeugen konnte. Die dunklen Tiefen darunter mied er, als würden sie nicht existieren.
Doch heute nacht würde er auf der Suche nach Antworten in sie hinabtauchen. Vorsichtig und langsam trug er die Mauer ab, die ihn vor den Gefahren des Abgrunds schützte. Harry fürchtete sich nur vor wenigen Dingen im Leben. Das Gefühl, das sich nun auf ihn herabsenkte, gehörte dazu. Der Kontrollverlust, der mit dem Niederriß seiner inneren Festung verbunden war, stellte den Preis dar, den er zahlen mußte, um seine Ziele zu erreichen.
Am Fenster stehend, starrte er in die Nacht hinaus, während die Vibrationen der Konzentration sein Inneres erfüllten. Er gab sich dem Prozeß des Wissens hin. Mit geschlossenen Augen verstärkte er den Griff um das kleine Metallstück in seiner Hand. Es enthielt eine wichtige Information, die er verstehen mußte, um Molly zu helfen. Jetzt tauchte der Abgrund auf. Und die Glasbrücke, die sich darüberspannte. Die andere Seite erkannte er nicht. Sie war nie zu sehen. Harry hatte es sich bis jetzt nicht erlaubt, über die Brücke zu gehen, und es nur selten riskiert, überhaupt einen Fuß darauf zu setzen. Was ihn auf der gegenüberliegenden Seite erwartete, wußte er nicht, aber er war fest davon überzeugt, daß am Boden des Abgrunds der Wahnsinn lauerte. Er machte einen tastenden Schritt auf die Glasbrücke. Nicht nach unten sehen, sagte er zu sich. Einfach nicht nach unten sehen.
»Harry?«
Aus dem Nirgendwo stieg der Hunger in ihm auf und verwüstete die ernsthaft geschwächte Abwehr.
»Harry, ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Mollys Stimme war ein flüsterndes Geräusch in der Ferne. Es erreichte ihn durch die endlose Nacht, die ihn umgab. Sie war hier im Wohnzimmer. Direkt hinter ihm.
Nein. Geh. Geh zurück in dein Bett. Um Gottes willen, komm mir nicht zu nah, nicht jetzt …
Aber die Worte blieben in seinem Geist gefangen. Er konnte sie nicht laut aussprechen.
»Gibt es ein Problem, Harry?«
Ja. Ja. Ja. Harry schaffte es nicht, die Worte mit seiner Zunge zu bilden. Sein Körper wollte den Befehlen nicht gehorchen. Als er sich zu Molly umwandte, taumelte er. Durch die Schatten sah er sie auf sich zukommen. Wilde Verzweiflung erfüllte ihn. Er hatte die Glasbrücke schon zu weit betreten und konnte das furchtbare, drängende Verlangen in sich nicht mehr kontrollieren. Während er auf dem durchsichtigen, dünnen Glasbogen um Balance rang, erspähte er das gegenüberliegende Ufer des Abgrunds. Plötzlich verstand er, warum er bisher jede Spekulation darüber, was ihn dort erwarten könnte, vermieden hatte. Es war besser, nicht zu intensiv über etwas nachzusinnen, das man nicht besitzen konnte. Eine heftige, heiße Sehnsucht erfaßte sein Inneres wie mit Krallen.
»Geht es Ihnen gut?« Molly blieb vor ihm stehen. Sie trug den weißen Bademantel, den sie mitgebracht hatte. Das Haar umstand ungeordnet und wunderbar wild ihren Kopf. Ihre Augen waren zwei kristallklare, unergründliche Teiche im Mondlicht.
Harry sammelte seine Kraft für eine übermenschliche Anstrengung und schaffte es schließlich: Seine Zunge gehorchte ihm wieder. »Gehen Sie ins Bett
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