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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Goeritz
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es ginge, alles stimmte, der alte Mann keinen Rückzieher machte und alles doch nur
off the record
gesagt haben wollte – wie hasste er diesen Trick bei seinen Gegenübern –, dann hätte er mit einem Schlag die Maske des großen berühmten und doch so unbekannten Kampagnenstars gelüftet,
The German
,
Mister
– wir sind ja nicht Sony, nur Lionsgate –
Campaign.
Und
Gleiwitz
würde ein Aufhängerwerden, der sich sehen lassen konnte. Eine internationale Großproduktion über den Beginn des Krieges, der wie ein Fetisch mit Hitlerschnurrbart auf ewig durch die Zeit zu ziehen schien, ein Faszinosum unbewältigten Grauens und der wohl letzte Film des sonst so öffentlichkeitsscheuen Tycoons. O ja, da steckte mehr drin, als er zu hoffen gewagt hatte. Und vielleicht, wenn sie sich mehr vertrauten, käme ja auch die Tarantino-Sache noch heraus. Mehr als ihm selbst die Optimisten in der Redaktion jemals zugetraut hatten. Pfeifend ging ein junger Mann an ihm vorbei. Velder hielt ihn an und fragte ihn nach dem Weg.

IV.
    Â«Wenn die Orangen leuchten in dieser blaugrauen Dämmerung, dann habe ich keine Angst mehr vor dem, was kommt. Wissen Sie, die Natur ist uns in der Hinsicht voraus, sie weiß nicht, dass etwas vergeht, aber sie spart sich ihre schönsten Farben bis ganz zuletzt auf. Wie zum Trost. Treten Sie an das Fenster. Jetzt bleiben Sie still, ganz still. Sehen Sie hinaus. Ich habe das Bild in den letzten Tagen so in mir aufgesogen, dass ich wissen will, ob ich es Ihnen erzählen kann, ohne hinzusehen. Erst kann man kaum die Früchte vom Ast unterscheiden, ein ziemlich großer Baum, wenn sie mich fragen, und alle Bällchen noch dran, zu dieser Jahreszeit. November!»
    Â«Ich glaube, es sind Pfirsiche», sagte der Interviewer.
    Â«Wie? Pfirsiche? Nein, das ist so eine chinesische Art von Orangen, dachte ich, mit Früchten, die im Winter reifen. Wie auch immer, ich versteh nichts von Obst. Ralph weiß das besser, wir werden ihn fragen.»
    Der alte Mann hatte die Augen wieder geöffnet. Er stand, mit einer Hand auf einen alten, löwenkopfbestückten Kaminsims gestützt, vor dem leicht angeschrägten Ganzkörperspiegel, der die Ecke des großen alten Zimmers nach allen Seiten zu verdoppeln schien. Auch die Früchte von draußen tauchten als kleine flauschig wirkende Bälle vor dem Nebelgrau darin auf.
    Â«Aber sehen Sie! Äste, die wie Finger in die Dunkelheit greifen, feine Handschuhe voll mit Feuchtigkeit, perlgrau. Und wir sind hier im zweiten Stock. Der ganze nassgraue Teppich, der sich über die Welt gelegt hat, um alles Unangenehme darin zu verschlucken. Man hört nichts, man sieht nicht viel, die beste Zeit, um zu arbeiten. Die Zeit kurz vor Morgengrauen ist die Zeit, wo sich die meisten Menschen umbringen, hab ich mal gelesen. Oder, denke ich mir, sie beginnen, an Gott zu glauben.»
    Was auch immer sie waren, die Früchte waren wirklich schön. Oder unwirklich schön. Wie glühende kleine Sonnenbälle im Nebel. Der Interviewer hatte sich direkt hinter den alten Mann gestellt. Der Geruch nach Krankheit, der sonst immer an ihm gehaftet hatte oder schwach als Grundton in den Räumen gelegen hatte, war verschwunden.
    Â«Vielleicht ist das sogar dasselbe. Ich meine, vielleicht steckt dasselbe Gefühl dahinter. Wieder ein neuer Tag, wieder diese elenden kleinen Entscheidungen, das Schöne im Kleinen zu sehen, diese Entscheidung gegen die Verzweiflung, die einen sonst so leicht überkommt. Weil man nämlich im großen Gefüge doch keine Rolle spielt. Wenn man sich das irgendwann einmal zu oft klargemacht hat, dann bleibt einem wohl nichts anderes übrig, als sich für eine der beiden Varianten zu entscheiden. Verzweiflung oder diese kleine Hoffnung. Ist wohl Veranlagungssache. Oder Zufall. Aber genug frische Luft, machen Sie bitte das Fenster zu?»
    Der Interviewer schloss die großen Fenster mit dem altmodischen Messingknauf, es quietschte gehörig, aber er hatte die empfindlichen Mikros so in den Raum gedreht, dass sie etwas von der Atmosphäre in dem alten Hotelzimmer einfangenkonnten. Nach der Sensation von Venedig, er nannte sie bei sich so, hatten sich verschiedene Fernsehsender, Zeitungen, Zeitschriften auch internationalen Formats um kleinere und größere Beiträge über den ‹Herrscher des Lichts› und sein
Gleiwitz
-Projekt gerissen. Plötzlich war alles gut, was

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