Träumst du noch oder küsst du schon?: Roman (German Edition)
Mädel, das unversehens in ihr erstes Date geschlittert ist und dringend ein bisschen Abdeckstift und Lipgloss auftragen muss. Und zwar pronto.
Ich lasse ihn also auf der Feuerleiter sitzen, klettere durch das Fenster in mein Schlafzimmer und flitze in die Küche. Kein Wein. Nicht mal Bier. Das Einzige, was noch da ist, ist Robyns und mein Notfalltequila. Ich beäuge ihn kurz und wäge ab, ob er das wohl falsch verstehen könnte, schnappe mir allen Vorbehalten zum Trotz die Flasche nebst zwei Schnapsgläsern, und mache dann noch schnell einen kleinen Abstecher ins Badezimmer.
Ein paar Minuten, etwas Abdeckstift, einen Klecks Himbeerlipgloss und ein bisschen hektisches Haareaufschütteln später bin ich wieder auf dem Weg ins Schlafzimmer, um zu Adam auf die Feuerleiter zu klettern. Nur dass der nicht mehr da ist. Stattdessen sitzt er im Schneidersitz mit dem Rücken zu mir mitten in meinem Schlafzimmer und schaut sich irgendwas an.
»Von wem sind die denn?«, fragt er, als er mich hereinkommen hört.
Ich spähe über seine Schulter, was er sich da anguckt. »Ach, das sind bloß meine alten Skizzenblöcke«, rufe ich wegwerfend. Ich strecke ihm die Flasche Tequila entgegen. »Leider das Einzige, was wir noch im Haus haben.«
Er ignoriert meinen Einwurf. »Die sind von dir?« Er blättert darin herum. Dann bleibt sein Blick an einem Bild hängen und er hält es hoch, damit ich es sehen kann. »Das hast du gezeichnet?«
»Ähm … ja.« Geistesabwesend zucke ich mit den Achseln, stelle die Schnapsgläser auf meine Frisierkommode und schraube die Tequilaflasche auf. Dann gieße ich uns ein. »Lang, lang ist’s her.«
»Wer ist das?«
Ich höre auf herumzuhantieren und schaue mir die Skizze an. Es ist eine Tuschezeichnung von einer alten Dame. Ihr Gesicht ist dem Licht zugewandt, ihr Körper liegt im Halbdunkel. »Ich weiß nicht, wer das ist. Ich habe sie eines Tages auf einer Parkbank sitzen sehen.« Meine Gedanken kehren zu diesem Tag zurück. »Sie las ein Buch – ich weiß noch, sie hatte es aufgeschlagen auf dem Schoß liegen –, aber sie hatte die Augen zugemacht und das Gesicht zur Sonne gedreht, als sei sie ganz in ihrer eigenen Welt versunken.«
»Das ist fantastisch, Lucy.« Adams Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Die sind alle fantastisch.«
Ich lächele verlegen. »Ach was, hör auf, das ist doch bloß Gekritzel.« Ich halte ihm ein Schnapsglas hin, das er wortlos annimmt.
»Ehrlich, Lucy.« Mit großen Augen schaut er zu mir auf. »Die sind unglaublich. Du hast wirklich Talent.«
Mir steigt bei seinen Komplimenten die Röte ins Gesicht. Verschämt nippe ich am Tequila und knie mich neben ihn.
»Sind das alle deine Skizzenbücher?« Er weist auf einen Stapel Blöcke, achtlos in mein unordentliches Bücherregal gestopft. Trotz meiner Aufräumversuche türmt sich immer noch überall der Krempel.
Ich nicke. »Meine Leinwände sind noch in England.«
»Leinwände?«
»Meine Bilder«, erkläre ich. »Die konnte ich nicht mitbringen. Ich habe sie bei meinen Eltern gelassen, in der Garage.«
»Die hast du irgendwo weggepackt?« Ungläubig guckt er mich an. »Aber die müsstest du ausstellen, damit man sie sich anschauen kann.«
»Du hast sie doch noch gar nicht gesehen«, meine ich und muss angesichts seiner offenkundigen Begeisterung lächeln. »Vielleicht gefallen sie dir ja gar nicht.«
»Hast du keine Fotos davon?«
»Öhm … irgendwo müssten noch ein paar Polaroids sein.«
»Wo? Die will ich sehen!«
Ich weiß, dass er mir keine Ruhe lassen wird, bis er sie gesehen hat, also bücke ich mich und krame in den Regalen herum, bis ich einen alten Schuhkarton ausgegraben habe. »Bitte sehr.« Ich reiche ihm den Karton. »Die Farben sind vermutlich inzwischen etwas verblasst, die Fotos sind schon etliche Jahre alt.«
Gespannt beobachte ich, wie Adam den Karton öffnet. Er ist bis zum Rand vollgestopft mit Fotos. Die müsste ich eigentlich auch dringend mal aussortieren, denke ich, als er anfängt,
die Fotos durchzusehen. Ich müsste einfach viel mehr Ordnung halten …
»Wow!«
Jäh aus meinen Gedanken gerissen, schaue ich auf und sehe, wie Adam mich anguckt. Aber er sieht mich nicht an wie sonst; nein, er guckt, als hätte ich ein kleines grünes Männchen auf dem Kopf.
»Wer ahnt denn so was«, flüstert er ehrfurchtsvoll vor Staunen.
Dass ich ein kleines Ferkel bin und dieses aufgeräumte Zimmer lediglich ein Übergangszustand ist? Dass ich süchtig nach
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