Transit
Es gab noch Schiffe nach Casablanca. Es gab noch Passagen. Wir konnten alle noch fliehen. Da fing Marie zu zögern an. Sie war mir bisher gefolgt, auf einmal begann sie zu zögern, sie zögerte und zögerte. Ein Schiff nach dem andern fuhr ab. Sie war auf kein Schiff zu bringen. Sie war mir zwar aus Paris gefolgt, durch das ganze Land, bis in diese Stadt. Doch auf das Schiff war sie nicht zu bringen. Und damals brauchte man noch kein Visum, noch kein Transit, man stürzte sich auf die Schiffe und fuhr. Marie aber gebrauchte Vorwände, die Schiffe fuhren ab. Ich drohte, allein abzufahren. Ich wollte sie zur Entscheidung zwingen. Sie war nicht zu zwingen, sie zögerte. Dadurch allein, durch Mariens Schuld, ist es jetzt so gekommen, daß ich nicht mehr warten kann. Ich möchte gern, daß Sie alles verstehen.«
»Sie sind mir keine Aufklärung über Ihre Gefühle schuldig.«
»Über meine gewiß nicht. Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen: Marie wird immer zögern. Selbst wenn sie sich plötzlich entscheidet, zu bleiben, auch dann wird sie im geheimen zögern. Sie wird sich auch nie entscheiden können, endgültig zu bleiben. Sie wird sich zu nichts auf Erden endgültig entscheiden, bevor sienicht einen Mann wiedergesehen hat, der vielleicht tot ist.«
Ich rief: »Wer sagt Ihnen, daß er tot ist?«
»Mir? Niemand. Ich sagte: Vielleicht.«
Da geriet ich ganz außer mir, ich rief: »Verlassen Sie sich nicht zu sehr darauf! Der Mann kann zurückkommen. Er ist vielleicht wirklich schon in der Stadt. Im Krieg ist alles möglich.«
Er sagte, indem er mich ruhig betrachtete aus seinem langen unbeweglichen Gesicht: »Sie vergessen eine Kleinigkeit, Marie ist schließlich mit mir fort, als der Mann noch lebte.«
Ja, das war wahr. Ich mußte zugeben, daß es wahr war. Es hätte dem Toten nicht weher tun können als mir. Der Krieg war über das Land gekommen, der Tod hatte auch sie gestreift, die Furcht hatte auch sie gepackt. Vielleicht nur einen Tag lang. Dann war es schon zu spät gewesen. Der eine Tag hatte sie von dem Mann für die Ewigkeit selbst getrennt.
Was aber ging mich der Mann an? Ich war ihn los, das war alles. Und wäre er wirklich auferstanden, ich hätte auch nichts Besseres gewünscht, als ihn loszuwerden. Mit ihm verglichen, dachte ich, ist der Bursche, der vor mir sitzt, ein magerer Schatten. Warum will sie ihm folgen? Warum läßt sie mich im Stich?
Der Arzt sagte in verändertem Ton, als ob er mich ablenken oder beruhigen wollte: »Aus einigen Ihrer Äußerungen entnehme ich, wie Sie zu dem Transitwesen stehen, zum Visentanz, diesem ganzen Konsulatszauber. Ich fürchte, mein Freund, Sie nehmen die Sache zu leicht. Ich jedenfalls denke anders darüber. Denn wenn eine höhere Ordnung in der Welt regiert – sie braucht nicht unbedingt göttlich zu sein, ganz einfach Ordnung, ein höheres Gesetz –, dann schimmert sie sicher auch durch die blöde Ordnung der Dossiers. Ihr Ziel ist Ihnen gewiß, ob Sie vorher Kuba oder Oran oder Martinique gestreift haben, was ficht es Sie an? Gewiß ist Ihnen die Kürze und Einmaligkeitdes Lebens, ob es nun in Mond- oder Sonnenjahre eingestellt ist oder in Transitfristen.«
»Da wundert es mich bloß bei der Erhabenheit Ihrer Gedankengänge, warum Sie eigentlich zappeln, vor was Sie sich eigentlich fürchten.« – »Das ist doch wirklich ganz einfach. Natürlich vor dem Tod. Vor dem gemeinen, sinnlosen Tod unter SA-Stiefeln.« – »Ich, sehen Sie, meine immer, ich müsse der sein, der alles überlebt.« – »Ja, ja, ich weiß, es fehlt Ihnen völlig an Vorstellungsgabe, was Ihren eigenen Abgang angeht. Sie, lieber Freund, wenn ich mich nicht in Ihnen täusche, möchten gern zwei Leben haben; da es nacheinander nicht geht, dann nebeneinander, dann zweigleisig. Sie können es nicht.«
Ich rief erschrocken: »Wie kommen Sie darauf?«
Er erwiderte leichthin: »Mein Gott, dafür gibt es Symptome. Ihr übertriebenes Aufgehen in fremden Lebensbezirken. – Ihr dankenswertes, doch auch erstaunliches Helfen-, Einspringenwollen. Ich sage Ihnen, Sie können es nicht, Sie können es nicht. Und falls es nichts mit der Ordnung ist, falls es doch nur das Schicksal gibt, das blinde Schicksal, dann ist es wirklich auch einerlei, ob Ihnen das Schicksal aus dem Mund eines Konsuls verkündet wird oder von dem Orakel von Delphi oder aus den Sternen, oder ob Sie es nachträglich selbst herauslesen aus den zahllosen Zwischenfällen Ihres Lebens, meistens falsch, meistens
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