Transit
Flaschen. Ein ganzer Stadtteil Hausfrauen hätte dafür Schlange anstehen müssen. Sie begann eine lange Kocherei, die sie nur dann und wann unterbrach, um mir einen Schuh zu zeigen oder ein Wäschestück oder um meinen Kopf an sich zu drücken. Sie fragte nach meinen Abfahrtsplänen, ob ich etwas brauchte. Ich sagte: »Nein, mein Lieb, ich bin glücklich.« – »Du brauchst vielleicht doch etwas, wie steht es denn nun mit deinen Visen?« – Ich sagte, ich brauchte im Augenblick nicht einmal ein Visum. – Sie sagte darauf, wenn ich einmal eins brauchte, sie hätte eine Schulfreundin auf der Präfektur. Ich fragte sie, ob die Schulfreundin hübsch wie sie sei. – Sie sei dick und ernst. – Dann wurde gedeckt und geschleckt, langwierige, sehr vergnügliche Zeremonien, die mich leicht ermüdeten und dadurch mein Unglück zwar nicht verminderten, aber dämpften.
Viel später – ich dachte, sie sei längst eingeschlafen, ich hatte kein Auge zugetan, stand auf und zündete eine Zigarette an, der Mond schien herein, die Scheibe klirrte, als sei der Mistral noch nicht verblasen – kam ihre Stimme ganz unerwartet, ruhig und wach: »Sei doch nicht traurig, Kleiner! Es lohnt sich nie. Glaub es mir!« Sie hatte mir also doch angesehen, wie es um mich stand, und alles getan, mich zu beruhigen.
V
Ich hatte danach keine Lust mehr, irgend jemand zu sehen. Ich ging auch nicht mehr zu Nadine. Ich setzte mich in den Cafés in eine Ecke, wo mich niemand ansprach.Trat jemand ein, den ich kannte, dann stellte ich schnell die Zeitung vor mein Gesicht. Ich bohrte sogar einmal in meine Zeitung zwei kleine Löcher, damit ich alles sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Ich ging zu Binnets hinauf, als mir die Zeit zu öd war. Wie einem die Zeit doch öd werden kann auf der zitternden Erde zwischen zwei Feuersbrünsten! Mehr, immer mehr verlangt das Herz, das hoffnungslos an die Jagd gewohnt ist. Auch den Besuch bei Binnets bereute ich, denn der Arzt saß wieder im Zimmer. Er war bereits wieder wohlgemut. »Da sind Sie ja endlich«, rief er bei meinem Eintritt. »Marie sorgt sich, wohin nun auch Sie verschwunden sind.« – »Mit meiner eigenen Transitsache beschäftigt«, erwiderte ich. Ich bereute sofort meine Antwort. »Wollen Sie plötzlich auch fahren?« – »Ich will jedenfalls den ganzen Kram beieinanderhaben.« Bei dieser Antwort warf mir der Junge einen kurzen Blick zu. Das einzige Zeichen, an dem ich merkte, daß er meinen Besuch gewahr wurde. Er las oder stellte sich lesend. Der Arzt sprach ihn manchmal an, er tat aber, als sei der Arzt nicht mehr vorhanden. Die Rückkehr des Arztes hatte gar keinen Aufruhr in dem Knaben verursacht, sie war ihm gleichgültig. Dieser Mann war für ihn abgefahren. Er hatte ihn verlassen, hatte ihn verwundet durch die unumgängliche Abreise. Mochte er tausendmal zurückkehren, dieser Abschied war endgültig. Auch mich betrachtete er auf einmal als einen Schatten, an den zu klammern, mit dem zu reden keinen Zweck hatte.
Der Arzt erzählte uns, die zurückgewiesenen Passagiere hätten Vorzugsplätze für das nächste Schiff. Er war ganz gut gelaunt, seine Gedanken hatten sich längst von der mißglückten Passage gelöst und auf die nächste geworfen, für die er vornotiert war, für die er alles erhoffte. »Marie wird auch ihr Visum bekommen«, versicherte er, »fragen Sie bitte bald nach.« Ich erwiderte, dazu hätte ich keine Lust mehr, meine Mission auf dem Konsulat sei beendet, alles sei ordnungsgemäß beantragt, es bleibe nurdas Abholen, das Marie allein besorgen könne. Er sah mich scharf an, weil meine Stimme schroff war. Er sagte höflich, spottlos: »Wir haben Ihnen Ungelegenheiten gemacht. Marie war diesmal entschlossen abzufahren. Hab ich Ihnen nicht alles im voraus gesagt?« Ich erwiderte nichts darauf, sondern ging. Woher kam ihm die Sicherheit in einer Wirrnis aus Zufällen?
Ich beschloß, den Abend auf meinem Zimmer zu bleiben. Wenn ich die steile Treppe hinaufstieg, dann winkte ich meiner Wirtin zu in ihrem kleinen Fenster, und manchmal lobte ich ihre Frisur. Ich hatte es immer zuwege gebracht, meine Miete zu zahlen aus den »Abfahrtsspesen«. Ich war erstaunt, als sie mich anhielt. »Ein Herr hat nach Ihnen gefragt, ein französischer Herr mit einem kleiner Schnurrbart. Er hat seine Karte zurückgelassen.« Ich konnte nicht ganz meinen Schrecken verbergen.
Auf meinem Zimmer studierte ich dann die Karte: »Emile Descendre, Seiden en gros.« Ich hatte nie diesen Namen gehört.
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