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Transit

Transit

Titel: Transit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Seghers
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Dichtkunst einflocht. Wir verbeugten uns voreinander.
VI
    Ich setzte mich in die Glasveranda des Café Rotonde, dem Belsunce gegenüber. Mein leerer Kopf nahm willenlos ein Gespräch auf, das am Nachbartisch geführt wurde. In einem Hotel in Portbou jenseits der spanischen Grenze hatte sich in der Nacht ein Mann erschossen, weil ihn die Behörde am nächsten Morgen nach Frankreich hatte zurückschaffen wollen. Die beiden ältlichen, kränklichen Frauen – die eine hatte zwei kleine Knaben bei sich, vielleicht ihre Enkel, die aufmerksam zuhörten – ergänzten wechselweise diesen Bericht mit lebhaft klingenden Stimmen. Der Vorgang war ihnen weit klarer als mir, weit einleuchtender. Was hatte denn dieser Mann für unermeßliche Hoffnungen an sein Reiseziel geknüpft, daß ihm die Rückfahrt unerträglich dünkte? Höllisch, unbewohnbar mußte ihm das Land erschienen sein, in dem wir alle noch stecken, in das man ihn zwingen wollte zurückzukehren. Man hört ja wohl von solchen erzählen, die den Tod der Unfreiheit vorzogen. Doch war der Mann jetzt frei? – Ja, wenn es so wäre! Ein einziger Schuß, ein einziger Schlag gegen diese dünne schmale Tür über deinen Brauen, und du wärst für immer daheim und willkommen.
    Ich erblickte Marie, die langsam am Rand des Belsunce entlangging. Sie trug einen kleinen zerknitterten Hut in der Hand. Sie trat in das Café Cuba ein, das neben der Rotonde liegt. Ob sie dort von dem Freund erwartet wurde? Ob sie immer noch weitersuchte? Ich hatte sie seit der Rückkehr des Arztes verzweifelt gemieden. Ich konnte mich jetzt nicht bezwingen und wartete, mein Gesicht an der Scheibe. Sie kam bald zurück mit leerem enttäuschtem Gesicht. Sie ging fast an mir vorbei. Ich duckte mich hinter den Paris Soir. Doch irgend etwas hatte sie unbewußt von mir wahrgenommen, mein Haar oder meinen Mantel oder, falls es dergleichen gibt, den übermächtigen ausschließlichen Wunsch, sie möchte noch einmal umkehren.
    Sie trat in die Rotonde ein. Ich sprang in den inneren Raum; mit böser, kranker Freude sah ich mir an, wie sie suchte. Denn etwas in ihrem Suchen, in ihren Zügen verriet mir, daß der, den sie heute suchte, kein Schatten war, sondern Fleisch und Blut, und auffindbar, falls er sich nicht aus Bosheit versteckte. Sie kam in den inneren Raum, und ich lief durch die hintere Tür in die Rue des Baigneurs. Ich lief, von neuem verhext, in den Straßen herum. Ich würde mich ihrer durch mein Verschwinden, mein unerklärliches Unsichtbarwerden, desto besser versichern. Sie sollte mich suchen, wie sie imstand war zu suchen, Tag und Nacht, rastlos. Ich könnte mir, da ja mein Spiel schon begonnen war, Abfahrtspapiere verschaffen, eins nach dem andern. Ich könnte mich selbst bei der Abfahrt des Schiffes verstecken. Ich könnte dann auf dem Meer oder auf einer Insel oder im fremden beklemmenden Licht des neuen Landes wie durch Zauber vor ihr stehen. Dann gab es nichts anderes zwischen ihr und mir als meinen mageren Nebenbuhler mit dem langen ernsten Gesicht. Die Toten, die wir zurückließen, würden längst von ihren Toten begraben sein.
    Ich zog mich mit solchen Träumen in meine Höhle zurück in die Rue de la Providence. In meinem Zimmer war immer noch ein süßlicher fremder Friseurgeruch von meinem Besuch, dem Seidenhändler.

Achtes Kapitel
I
    Inzwischen näherte sich der Tag meiner endgültigen Vorladung auf das Konsulat der Vereinigten Staaten. Ich war fest entschlossen, mir das Transit zu sichern. Für mich war damals alles ein Spiel. Doch die Gesichter der Menschen, die in der Vorhalle warteten, um in die höhere Vorhalle hinaufgelassen zu werden, waren bleich vor Furcht und Hoffnung. Ich wußte, die heute mit mir vorgelassenen Männer und Frauen hatten ihr bestes Zeug geschont und gebürstet, sie hatten auch ihre Kinder zu gutem Verhalten ermahnt, als ob sie zur ersten Kommunion sollten. Sie hatten alle möglichen Vorbereitungen getroffen an ihrem Äußeren, in ihrem Inneren, um in dem richtigen Zustand vor dem unbeweglichen Gesicht des Konsuls der Vereinigten Staaten zu erscheinen, in dessen Land sie sich niederlassen oder durch das sie wenigstens ziehen wollten, um in ein anderes Land zu gelangen, in dem sie sich vielleicht niederließen, falls sie es je erreichten. Und all diese Männer und Frauen besprachen sich rasch und zum letztenmal mit vor Aufregung rauhen Stimmen, ob es besser sei, vor dem Konsul der Vereinigten Staaten eine Schwangerschaft zu verbergen oder sie ihm

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