Transsibirien Express
»Mulanow, verdrehen Sie nicht die Augen. Sehen Sie Mildaschka an. Als Russe wissen Sie zu gut, was einem passiert, der aus einem Lager ausbricht und wieder eingefangen wird. Soll Milda das durchmachen?«
Es gibt ein Wort, das heißt: ›Die Hand des Schicksals greift ein‹. Wer daran glaubt, ist gut dran … er kann immer und überall auf dies Eingreifen warten und wird selten enttäuscht, denn das Schicksal hat nun einmal viele, recht verschieden aussehende Hände …
Streiten wir uns nicht darüber, ob auch jetzt, auch hier im Transsibirien-Expreß, das Schicksal eine Fahrkarte hatte und unsichtbar im Abteil saß … jedenfalls gab es vom Speisewagen her einen lauten Krach, man hörte erregte Stimmen, dann kreischte jemand hell auf. Es klang so schauerlich, als ziehe man diesem Jemand die Haut vom Leibe; dann ertönten klatschende Schläge.
Mulanow sprang auf und zerwühlte seine Haare.
»Was ist das?« rief er. »So schlecht kann doch das Frühstück nicht sein, daß man Fedja schlachtet und den Speisewagen demoliert? Was für eine Sorte von Menschen fährt denn heute bloß in diesem Zug?«
Der Schaffner stürzte auf den Gang, kam aber sofort zurück und winkte Forster heraus.
»Es ist wirklich Fedja!« schrie er dabei. »Der Ärmste! Sie haben ihm die Arme auf den Rücken gedreht und schleppen ihn weg! Und alles nur, weil vielleicht ein Frühstücksei zu hart war!«
»Bleib ruhig sitzen, Milda!« sagte Forster und erhob sich. Er blickte sie an, und ihre Augen waren ganz anders als vorher, als sie ihre Geschichte noch nicht erzählt hatte.
Etwas Vertrautes lag in diesem Blick, trotz aller Angst, ein Strahlen der Verbundenheit. Er umfaßte zärtlich ihr schmales Gesicht und küßte sie auf die kalten Lippen.
Und diese Lippen öffneten sich jetzt, erwiderten den Kuß, ihre Arme schnellten empor und legten sich um seinen Nacken. Sie kniete auf dem Bett und hing doch an ihm; und als er Atem schöpfen wollte, preßte sie seinen Kopf fester an sich und ließ seine Lippen nicht los.
Erst als Mulanow ins Abteil brüllte: »Sie bringen Fedja fast um!« ließ sich Milda in die zerknüllten Decken zurückfallen. »Ich liebe dich, Werner«, sagte sie leise. »Ich liebe dich! Ich liebe dich! Und ich weiß nicht, warum …«
Durch den Gang schleifte man den armen dürren Fedja. Drei Männer hielten ihn fest, und ihnen folgte der Koch mit einem zusammengeknüllten Kleiderbündel.
Mulanow brüllte mit der ganzen Stärke seines Organs:
»Lassen Sie den Kellner los, Genossen! Was ist das für ein Benehmen! Kusma Matwejewitsch, Sie gehen auch noch hinterher und veranlassen nichts?«
Kusma war der Koch des Speisewagens.
Aus den Abteilen drängten die Reisenden, der General erschien – sehr imponierend – in seiner Uniform. Nebenan war der Tenor zurückgekehrt und überlegte, ob es eine Gefangenen-Arie für Tenorstimme gibt.
Fedja sah fürchterlich aus. Man hatte ihm auf die Augen geschlagen, die jetzt zuschwollen; er wehrte sich verzweifelt, biß und spuckte um sich … Er ließ sich über den Boden schleifen und kreischte nach wie vor wie ein Papagei …
»Aus dem Weg, Mulanow!« rief Kusma, der Koch, über die Köpfe der anderen hinweg und schwenkte das Kleiderbündel. »Das habe ich unter Fedjas Bett gefunden! Eine Hose voller Blut … und Klaschkas Lederbeutel mit dem Geld!«
Eine ungeheure Aufregung entstand.
Die Reisenden auf dem Gang hieben bedenkenlos auf Fedja ein, keiner fragte, ob das nicht ein schrecklicher Irrtum sei.
Der General stand steif, wie zur Parade, in der Tür seines Abteils und rief schnarrend: »Erschießen! Sofort erschießen!«
Der Tenor hatte endlich die Arie gefunden, die er suchte, und schmetterte lauthals: »Gott, welch Dunkel hier …« aus ›Fidelio‹.
Wie gesagt – es war ein brodelnder Kessel voller Empörung, durch den man Fedja hindurchzog.
»Hört mich doch an!« schrie der lange dürre Kerl.
Er konnte kaum noch etwas sehen, denn seine Peiniger schlugen zielsicher auf seine bereits zugeschwollenen Augen und ohrfeigten ihn dermaßen, daß sein an sich bleiches Gesicht notgedrungen rot anlaufen mußte.
»Es ist doch alles ganz anders! Ich bin das Opfer eines Anschlages! Wer hilft mir? Ich will doch alles erklären …«
Aber niemand wollte eine Erklärung hören.
Man schleifte Fedja weiter, bis die gesamte Gruppe vor Mulanow halten mußte. Er stand wie ein Fels im Gang.
»Warum hört ihn niemand an?« brüllte der Schaffner. »Ausgerechnet Fedja! Wenn er sich in
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