Transzendenz
immer hinter Alias Augen saß, schien sich losgelöst zu haben und frei durch die Räume ihres Geistes zu schweben. Die Wände dieser Räume waren porös – hauchdünn, durchscheinend –, sodass ein helleres Licht durch sie hereinfiel. Und sie hörte Stimmen, viele Stimmen. Es war nicht der gestaltlose Lärm, der sie zuvor beunruhigt hatte, sondern so etwas wie ferner Gesang, ein riesiger Chor vielleicht; aber der Wind trug die süßen, miteinander verschmolzenen Stimmen fort.
Der Lichtschein dort draußen war warm und angenehm, die Stimmen klangen sanft und harmonisch. Mit einer Willensanstrengung bahnte sie sich einen Weg durch die Wände ihres Kopfes nach draußen.
Ihr Geist förderte Analogien für das zutage, was sie erlebte. Sie schwebte über einer Landschaft. Es war dunkel, aber über dem samtenen Boden lagen Lichtmuster, wie ein System von Straßen, ein leuchtendes Netz aus Fäden in vielen Farben, das eine Vielzahl strahlend heller Punkte verband.
Sie wollte mehr sehen. Mühelos stieg sie in die Höhe. Der Boden unter ihr war wie ein gestirnter, invertierter Himmel, auf den eine riesige Karte mit Sternbildern gemalt war. Hier und dort leuchteten eng verbundene Gruppen von Knotenpunkten wie Städte. Sie sah, dass die Karte nicht unendlich war. Sie führte in sich selbst zurück – nicht wie eine Kugel, das wäre für diese traumartige Vision viel zu prosaisch gewesen, sondern jeder Punkt war mit jedem anderen verbunden. Die Karte war dynamisch, die Verbindungen funkelten, wanden sich, schufen neue Verknüpfungen und änderten sich permanent. Der ständige Wandel war ebenfalls ein Bestandteil des Musters; dies war eine Karte in der Zeit ebenso wie im Raum.
Und obwohl sich die Topologie des Netzes fortwährend änderte, blieb keiner dieser leuchtenden Punkte jemals isoliert. Jeder war immer durch zwei, drei, vier Linien mit seinen Nachbarn und durch sie mit dem Ganzen verbunden.
Dies war die Transzendenz, jeder der leuchtenden Knotenpunkte ein menschlicher Geist, die Verbindungen zwischen ihnen Kanäle aus gemeinsamen Gedanken und Erinnerungen. Diese visuelle Karte war eine primitive Analogie und obendrein unvollständig, denn der vereinigte Geist war größer als ein simples Aggregat von Individuen. Und doch öffnete sie ihr die Augen.
Sie sah nichts Bedrohliches in dieser warmen Verbundenheit. Plötzlich sehnte sie sich danach, einer dieser Knotenpunkte zu werden, für alle Zeit in die ungeheure Freundlichkeit dieser Topologie einbezogen zu sein. Sie schwebte aus dem unsichtbaren Himmel nach unten. Dann ging sie in das Netzwerk über und sank durch einige seiner Schichten hindurch, bis sie von leuchtenden Geist-Knoten umgeben war.
Verbindungsranken griffen nach ihr, betasteten sie von allen Seiten.
Sie verspürte unerwartete Furcht, und für einen Augenblick war sie wieder in ihrem Körper, der sich auf ihrer Matratze hin und her warf.
Doch dann änderte sich die Metapher.
Es gab keine Sterne und Laserfäden mehr. Gesichter wandten sich ihr zu. Sie lächelten. Und sie sahen alle wie das von Drea aus, dachte sie – oder sogar wie ihr eigenes. Während die vertrauten Augen leuchteten, umfassten Hände die ihren oder rieben ihren Rücken, ihren Hals, ihre Arme. Sie kamen näher, bis Alia von einer angenehmen Wärme umgeben war. Einen kurzen Moment lang war es erstickend, und sie schlug erneut um sich, doch dann ließ der Druck nach.
Andere Metaphern jetzt: Überall um sie herum öffneten sich Flure, als ob Türen aufgerissen würden, hinter denen man sie in die Ferne zurückweichen sah. Jeder beliebige Weg stand ihr offen, und alle Wege sahen einladend aus. Sie entschied sich für eine Richtung und schlug sie ein – sie ging nicht zu Fuß, sie skimmte nicht einmal, sie reiste einfach.
Nun befand sie sich in einer Art Bibliothek, einem Raum, in dem sich Borde und Regale in allen Richtungen in die Ferne erstreckten, so weit das Auge reichte, Seite an Seite, auf und ab. Leute arbeiteten hier geduldig, schlugen in Aufzeichnungen nach, begaben sich von einer Ecke dieses riesigen Archivs zur anderen. Die Gestalten der Bibliothekare waren unscharf, und ihre Aufmerksamkeit galt ausschließlich ihrer Arbeit. Alia konnte nicht sehen, auf welche Weise sie sich von einer Stelle zur anderen bewegten, weil es keinen Boden gab, auf dem man laufen konnte – aber das war ohne Belang; es war nur ein Traum. Und obwohl das Archiv sich überall in die Unendlichkeit erstreckte, sah sie irgendwie andere Archive
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