Transzendenz
Meinung nach motiviert? Ich bin sicher, er wurde bezahlt. Aber wollte er nur Geld?«
»Nein.«
»Was hat ihn dann angetrieben?«
Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Seine Welt war in Schwierigkeiten. Pflichtbewusstsein, nehme ich an.«
»Pflichtbewusstsein, ja. Heutzutage ist natürlich alles anders. Doch obwohl das Geld verschwunden ist, bleibt die Pflicht – meinst du nicht? Und ich weiß bereits, dass du beim Beobachten deine Pflicht tust, Alia. Sag mir, was du von Poole hältst.«
»Sein Vermächtnis…«
»Vergiss mal seinen Platz in der Geschichte. Was hältst du von ihm?«
Sie betrachtete den spielenden Jungen. Für sie war Poole ein unterentwickeltes Geschöpf, das in einer beschränkten, dunklen Zeit lebte. Meistens war er gar nicht recht bei Bewusstsein. Sein Geist war nur halb geformt, und er sprach langsam und schleppend. Es war, als liefe er in einem Traum herum, ein Roboter, angetrieben von unbewussten und atavistischen Impulsen. Und als die Tragödie geschah, als seine Frau starb, war er überwältigt, außerstande, die mächtigen Gefühle, die ihn zerrissen, auch nur zu begreifen.
Dennoch war dieses mit Fehlern behaftete Tier Bürger einer Zivilisation, die bereits über ihren Geburtsplaneten hinausgriff, und Michael Poole selbst hatte eine gewaltige, die Geschichte prägende Verantwortung. Dennoch würde dieser Mann in gewissem Sinn seine Welt retten.
Unsicher versuchte sie, Reath gegenüber etwas von all dem in Worte zu fassen.
Reath sagte: »Überleg dir einmal, wie du für ihn aussehen würdest. Du gehörst in eine ganz andere Kategorie von Geschöpfen. Ich frage mich, ob ihr überhaupt imstande wärt, miteinander zu reden, wenn Poole jetzt vor dir stünde! Du und Poole, ihr seid so verschieden, wie zwei menschliche Wesen es nur sein können. Und doch hast du ihn ständig beobachtet. Glaubst du, dass du ihn jemals lieben könntest, Alia?«
»Lieben? Wovon redest du? Was willst du, Reath?«
Seine Augen waren von einem tiefen, wässrigen Gold. »Ich muss sicher sein, weißt du.«
»Sicher?«
»Ob du wirklich das bist, was ich suche.« Auf ein leises Geräusch hin drehte er sich um. »Ich glaube, dein Vater ist nach Hause gekommen.«
Alia war froh, aus dem Zimmer laufen, vor diesem fremden Mann und seinem prüfenden Blick bei ihrem Vater Zuflucht suchen zu können. Aber am Ende war Zuflucht das Letzte, was sie fand.
Im Wohnzimmer standen ihre Mutter und ihr Vater nebeneinander. Ihre Schwester Drea war ebenfalls da. Reath, der Alia gefolgt war, trat diskret beiseite.
Alias Aufmerksamkeit wurde von den Beobachtungstanks ihrer Eltern und ihrer Schwester abgelenkt, die in einer Ecke des Zimmers übereinander gestapelt waren. Sie merkte, dass sie sich nicht entsinnen konnte, wann sie einen von ihnen zuletzt beim Beobachten gesehen hatte. Vielleicht hatte Reath Recht, und sie war wirklich anders als die anderen.
Ihre Eltern und ihre Schwester starrten sie an.
Und dann registrierte sie auf einmal – so als sähe sie es erst jetzt –, dass Ansec nicht allein nach Hause gekommen war. In den Armen hielt er ein frisch aus den Geburtsbehältern stammendes Baby.
Die ersten Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. »Sieh an«, sagte sie. »Ein richtiges Familientreffen.«
Ihre Mutter wirkte gequält. »O Alia, es tut mir Leid.«
Ansec, ihr Vater, war ruhiger, obwohl sich auch in seinem Gesicht Kummer abzeichnete. »Es ist keine Krise«, sagte er. »Zumindest muss es keine sein. Es ist einfach nur eine Chance.«
Alia wandte sich ihrer Schwester zu. »Und du… hast du es gewusst?«
»Lass es nicht an mir aus«, blaffte Drea zurück. Einen Moment lang loderte geschwisterliche Rivalität auf. Sie machte eine Handbewegung zu Reath. »Das Commonwealth will dich, nicht mich!«
Und die ganze Zeit war da die stumme, unwiderlegbare Existenz des Babys in den Armen ihres Vaters. Bels Augen leuchteten jetzt. »Es ist ein Junge, Alia, ein Junge!«
»Du weißt, wie glücklich uns das machen wird, nicht wahr?«, sagte Ansec. »Du weißt, wie sehr wir Kinder lieben – wie gern wir dich während deiner Kindheit bei uns gehabt haben.« Er wiegte das Baby in den Armen. »So sind wir nun einmal, Alia. Wir beide, Bel und ich. Kinder sind unser Leben. Sie machen uns zu dem, was wir sind.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Alia. »Eine Schwangerschaft im Behälter dauert zwei Jahre. So lange wisst ihr also schon, dass dieser Tag kommen würde. Und ihr habt gewusst, was dann passieren würde…«
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