Transzendenz
Teufel, mit euch beiden los ist, aber wir haben schon genug Probleme.«
Um uns herum wurde der Abzug der VIPs aus dem hinteren Teil des Zelts allmählich bemerkt. Barnette redete immer noch, aber ihre Botschaft bestand jetzt aus Ermahnungen, die Ruhe zu bewahren. Und in dem kleinen Aquarium gestikulierte die winzige Gestalt des Attentäters und schrie mit blecherner Stimme auf unsichtbare Unterhändler ein.
John rappelte sich langsam auf. Er wich meinem Blick aus.
»In Ordnung«, sagte ich. »Ich bin ganz ruhig. Können unsere Leute bei dem Verrückten irgendwas ausrichten?«
»Das ist ein Selbstmordattentäter.« Aus Shelleys Ton sprachen Zorn und Verzweiflung. »Was glauben Sie?«
»Können wir seinen Auslöser nicht einfach funktionsunfähig machen?«
»Nicht von fern. Er hat sich das ziemlich gut ausgedacht. Und er hat einen Totmannschalter.« Sie lachte hohl. »Der Junge ist ein guter Ingenieur. Unsere einzige Hoffnung ist, ihm die Sache auszureden. Aber wir kriegen nicht mal raus, was er will.«
»Wahrscheinlich will er vieles.« Jack Joy stand neben mir. Er schwitzte stärker denn je. »Aber wir alle handeln aus vielerlei Gründen, nicht wahr?«
Ich starrte ihn an und versuchte, aus ihm schlau zu werden. »Was wollen Sie?… Können Sie diese VR sehen? Wieso?«
Er tippte sich ans Ohr. »Ich habe meine eigenen Kanäle.«
Shelley funkelte ihn an. »Wer sind Sie? Haben Sie etwas mit all dem zu tun?«
Er antwortete ihr nicht. »Es ist nichts Persönliches«, sagte er trübsinnig. »Bitte glauben Sie mir das. Ich selbst sympathisiere sogar mit Ihren Zielen bei diesem speziellen Projekt; die Hydrate stellen eindeutig eine Bedrohung dar. Aber es ist das, wofür Sie stehen, wissen Sie. Die Bewegung, zu der Sie mittlerweile gehören. Die Philosophie hinter Ihren Handlungen. Der vergebliche Versuch, sich einer Veränderung der natürlichen Weltordnung zu widersetzen, während wir die Möglichkeiten nutzen sollten, die sie uns eröffnet. Die damit einhergehende Einschränkung unserer Freiheiten. Die Ansammlung von Macht seitens nicht wählbarer und nicht rechenschaftspflichtiger Organisationen und Individuen.«
Diese trostlose Auflistung entsprach einem Argumentationsmuster, das ich schon oft gehört hatte. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt für solchen Unsinn. Ich wollte ihn am Kragen packen, aber er war eine VR; meine Hand fuhr durch sein Hemd, ohne Schaden anzurichten, und verstreute fleischfarbene Pixel. »Wenn Sie Informationen haben, dann raus damit.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er beinahe förmlich. »Ehrlich. Ich mag Sie, Mike. Ich mag Sie wirklich!« Er löste sich in Luft auf.
Und zwei Kilometer weit draußen auf dem Meer betätigte der Attentäter seinen Auslöser.
45
In dunklen Korridoren des Geistes treibend, erkundete Alia die Transzendenz.
»Der Kern der Transzendenz ist Bewusstheit«, sagte Leropa zu Alia. »Stell es dir als ein Erwachen vor. Im Schlaf bist du dir nur deiner selbst bewusst, deiner Träume, Hoffnungen und Ängste. Das ist eine Art von Bewusstsein, ein Ichbewusstsein. Aber wenn du aus dem Schlaf erwachst, erweitert sich dieses Ichbewusstsein, und du nimmst auch ein größeres Universum außerhalb deines eigenen Kopfes wahr – sowie andere bewusste Wesenheiten wie dich, deine Eltern, deine Geschwister. Das ist von grundlegender Bedeutung. Du musst das Universum durch ihre Augen sehen, musst verstehen, wie sie empfinden, bevor du Interesse an ihnen entwickeln kannst.«
»Es ist mehr als Interesse«, sagte Alia. »Es ist Liebe.«
»Liebe, ja! Liebe ist umfassendes Verständnis und Wertschätzung einer anderen Seele. Durch Liebe gelangt man zu einer neuen Ebene, einer vollen Wahrnehmung anderer, sodass sich das eigene Bewusstsein noch mehr erweitert. Dies ist eine tiefe Wurzel unserer Menschlichkeit«, sagte Leropa. »Man glaubt, dass sich das Bewusstsein als eine Methode des Umgangs mit anderem Bewusstsein entwickelt hat. Vollständiges Ichbewusstsein ist in der Isolation also nicht möglich; es ist nur durch die Beschäftigung mit anderen zu erreichen. Und die intensivste Form einer solchen Beschäftigung ist Liebe.
Folglich ist die Transzendenz auf Bewusstheit begründet. Auf Liebe, wie du sie erlebt hast. Aber das ist nicht alles, denn die Transzendenz ist übermenschlich.
Die Transzendenz erstreckt sich durch den gesamten Raum. Jede neue Seele, die – wie du – in die Transzendenz hineingezogen wird, bereichert das Ganze. Und jede
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