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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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hörte eine Minute lang zu. »Ist das Lateinisch?«
    »Gebete«, sagte ich. »Für gewöhnlich das Vaterunser, vielleicht auch der vierundfünfzigste Psalm. Lateinisch gilt als effektiver.«
    John warf die Hände in die Luft. »Wer bin ich schon, dagegen Einwände zu erheben?«
    Rosas leise Stimme murmelte weiter, das einzige Geräusch im Raum. Wir blieben auf unseren Plätzen in dem Hufeisen. Morag saß einfach da, den Blick gesenkt, die Hände im Schoß verschränkt; das Kruzifix glitzerte zwischen ihren Fingern. Sie wirkte ruhig, so reglos, dass ich nicht einmal sah, wie ihre Brust sich beim Atmen hob und senkte. Mir wurde bewusst, dass ich mich schon seit vielen Jahren nicht mehr in einer so leeren, so von elektronischen Apparaturen, der reichhaltigen und farbigen Textur des modernen Lebens entblößten Umgebung befunden hatte. Hier saßen wir in diesem Raum, nur mit einer Reihe von Stühlen und einer Hand voll Menschen, darunter eine Frau in Schwarz, die Gebete in einer Sprache murmelte, die keiner von uns verstand. Aber es war außergewöhnlich, wie sich die Spannung aufbaute.
    Auf einmal stand Rosa auf. Wir zuckten alle zusammen. Rosa zeigte auf Morag. »Wer bist du? Hör auf, uns etwas vorzumachen. Sag mir deinen wahren Namen. Wer bist du?«
    Morag blickte zu Rosa auf. Dann rieb sie das kleine Kruzifix und lächelte mich an. Sie schien überhaupt keine Angst zu haben. Ihr Mund formte die Worte Tat mir Leid.
    Ich war zu schockiert, um zu reagieren.
    Und dann fing Morag an, sich zu verändern.
     
    Ihr Körper schien in ihren Kleidern zu schrumpfen, ihre Gesichtshaut verschrumpelte. Eine Art Fell bildete sich auf ihrer Haut, lange, hellbraune Haare, die nicht sprossen, sondern auf ihrem Gesicht und ihren Armen Gestalt annahmen, wie bei einer morphenden VR. Sie fuhr fort, in ihren Sachen zu implodieren, sodass ihr Kleid wie ein Zelt mit durchschnittenen Leinen zusammensank. Aber bald ragten ihre Arme aus ihren Ärmeln, als würden sie länger werden. Mit einer ungeduldigen, krampfhaften Bewegung stieß sie die Schuhe von sich und enthüllte Füße mit langen Zehen, so lang wie die Finger eines Kindes. Sie stand auf. Sie war so schlank geworden, dass ihr blaues Kleid um sie herum zu Boden fiel. Unterwäschereste, ein BH und ein Höschen, hafteten noch immer an ihr, aber sie zog sie weg und betastete sie neugierig.
    All dies dauerte nur Sekunden.
    Nackt war sie nur ungefähr anderthalb Meter groß. Ihr Körper war von dem orangeroten Fell bedeckt. Sie war schlank, hatte jedoch Brüste mit harten, ausgeprägten Brustwarzen. Ihre Arme waren lang, ungefähr genauso lang wie ihre Beine. Das beinahe menschliche Gesicht mit der langen Nase und dem vorspringendem Kinn war ebenso wie der kleine Schädel von diesem weichen Fell bedeckt. Ich fragte mich, was aus Morags schönem Haar geworden war.
    Ihre Augen waren menschlich – hellgrau, weich. Sie lächelte mich an und entblößte dabei eine Reihe vollkommen weißer Zähne. Dann hob sie einen Arm mit Muskeln wie knotigem Seil unter dem Fell. In der Hand hielt sie immer noch das Kruzifix.
    Ich riskierte einen Blick auf die anderen. Sie saßen mit großen Augen auf ihren Stühlen. Tom hielt Sonias Hand so fest umklammert, dass seine Knöchel weiß waren. Der Gea-Roboter schaute einfach nur zu; seine Plastikaugen glänzten.
    Rosa lächelte.
    John sagte: »Was – zum Teufel – ist das? Ein Affe?«
    Rosa fragte erneut: »Wer bist du?«
    Das Morag-Wesen sprach, aber es war eine Salve jenes Schnellfeuer-Monologs. Aus seinem Mund wirkte er irgendwie nicht so fremdartig.
    Rosa unterbrach es. »Wir können dich nicht verstehen.«
    Die Kreatur sah immer noch mich an. Sie zögerte, dann sprach sie bedächtiger. »Entschuldige«, sagte sie. Sie sprach jeden Teil des Wortes mit übertriebener Sorgfalt aus: »Ennt-schull-die-geh.«
    »Sag uns, wer du bist«, bat ich.
    »Mein Name«, sagte sie, »ist Alia.«

 
54
     
     
    Alia, das Affen-Wesen, das Morag gewesen war, drehte sich langsam um; ihre menschlichen Augen leuchteten. Behutsam legte sie das kleine silberne Kruzifix auf ihren Stuhl. Dann bückte sie sich – sie war äußerst gelenkig – und inspizierte den Salzstreuer und das Weinfläschchen neben dem Stuhl. Sie äußerte sich nicht dazu; vielleicht dachte sie, wir umgäben uns immer mit Salz, Wein und Kruzifixen.
    Alia hielt sich aufrechter als jeder Schimpanse, obwohl ihr Körper unleugbar affenähnlich war, mit hoher Brust und Armen, die so lang waren wie ihre Beine. Auch

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