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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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gelegt. Vielleicht war Jesus eine Art Köder, um den Teufel zu fangen, ein triumphaler Moment in Gottes langem Krieg gegen Satan. Womöglich war Christus sogar eine Art Lösegeld für unsere Sünden, das nicht an Gott, sondern an den Teufel entrichtet worden war.
    Im elften Jahrhundert hatte Anselm von Canterbury eine raffiniertere Idee vorgebracht. Sie habe sich »stellvertretende Sühne« genannt, sagte Rosa. Wir schuldeten immer noch ein Lösegeld, aber nun schuldeten wir es Gott, eine »Satisfaktion« für die Majestätsbeleidigung unserer Sünden. Das Problem war jedoch, dass wir zu gering waren, um auch nur würdig zu sein, uns entschuldigen zu dürfen. Deshalb nahm Gott noch einmal menschliche Gestalt an. Christus war so etwas wie ein Botschafter der Menschheit – ein »Stellvertreter« der kleinen Sterblichen –, und da er Gott selbst war, konnte er mit Gott sozusagen auf Augenhöhe verhandeln.
    Ich glaube, uns allen sträubten sich die Haare. John sagte: »Das klingt für mich nach Feudalismus.«
    »Sehr viele Menschen würden dir da zustimmen«, meinte Rosa.
    Als wir die Aufklärung im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert erreichten, war eine neue Stimmung entstanden, der Gedanke, dass wir Menschen uns durch unsere eigenen Anstrengungen bessern konnten – und deshalb in einem Universum leben sollten, wo so etwas möglich war. Jetzt hatte Jesu Opfer nichts mehr von einem Lösegeld oder einer Bezahlung; es war ein Beispiel dafür, wie wir Gott näher kommen konnten: durch Liebe und Selbstaufopferung. »Exemplarische Sühne«, nannte es Rosa.
    »Wir haben also keine Schulden mehr«, moserte Shelley. »Wir sind bloß zu dumm, um zu erkennen, was wir tun sollten.«
    John fragte neugierig: »Und was glaubst du, Rosa?«
    Sie überlegte. »Ich glaube nicht, dass Jesus gelebt hat, um eine Art Opferlamm zu werden«, sagte sie. »Das wahre Vermächtnis seines Lebens ist seine Botschaft, sind seine Worte.
    Aber historisch gesehen, haben die anspruchsvolleren Sühnetheorien sicherlich Paulus’ großem Projekt, das Kreuz von einem Symbol des Schreckens in eine Ikone der Liebe zu verwandeln, den letzten Schliff gegeben.«
    »Hübscher Trick«, murmelte John.
    »Und du meinst, in all dem stecke irgendwo eine Lehre für uns, für mich, wie man mit Alias Transzendenz fertig werden kann«, schloss ich.
    »Durchaus möglich.« Rosa beugte sich vor und sah mich an, und ich erkannte, dass sie nun zum eigentlichen Grund kam, weshalb sie dieses Treffen einberufen hatte. »Ich habe zu interpretieren versucht, was Alia zu dir gesagt hat, Michael. Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass dieses Netz miteinander verbundener geistiger Wesenheiten, das sie beschreibt, noch nicht durch seine Singularität gegangen ist. Es ist auf der Schwelle zur Transzendenz. Vorläufig sind sie noch menschlich, oder so menschlich, wie Alia es ist. Aber bald müssen sie ihre Menschlichkeit ablegen. Und sie wissen, dass zum Gottsein Distanz gehört.«
    »Ah«, sagte Shelley. »Wir fallen also nicht ab von Gott. Gott zieht sich von uns zurück.«
    »Das ist es also«, sagte Tom. »Die Transzendenz kann die bevorstehende Trennung von der Menschheit nicht ertragen.«
    »Nicht, so lange unerledigte Angelegenheiten über ihr schweben, nein«, sagte Rosa. »Sie empfindet vielleicht Reue. Trauer. Wer weiß?«
    »Ich verstehe immer noch nicht, was das mit mir zu tun hat«, sagte ich.
    »Die Transzendenz will Erlösung, Michael«, erklärte Rosa geduldig. »Im christlichen Mythos wurde die Erlösung der Menschheit durch das Opfer eines Mannes erreicht.«
    »Oh«, flüsterte ich. »Und der bin diesmal ich.«
    Alle fingen an, durcheinander zu reden.
     
    Rosa sagte zu mir: »Überleg dir, was das bedeutet, Michael. Ich habe aufmerksam zugehört, wie Alia dir all dies beschrieben hat. In gewissem Sinn wärst du ein ›Repräsentant‹ der Menschheit.«
    »Das klingt wie dieses feudalistische Zeug«, sagte Shelley. »Wie haben Sie es genannt?«
    »Stellvertretende Sühne, ja. Michael wird unser Fürsprecher gegenüber der Transzendenz sein, und er wird irgendwie auf Augenhöhe mit ihr verhandeln können, so wie in Anselms Vorstellung Christus mit Gott über die Sünden der Menschheit verhandelt hat.«
    »Aber was erwartet sie von mir? Eine Entschuldigung?«
    »Oh, ich glaube nicht, dass du dich für irgendetwas entschuldigen musst«, erwiderte Rosa. »Es ist die Transzendenz, die Erlösung sucht – nicht umgekehrt.«
    »Sie will sich also bei mir

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