Transzendenz
sechzig Jahren zu einer jungen Erwachsenen werden; es war eine Zeit voller Möglichkeiten, in der sie ihr Schicksal zunehmend in die eigenen Hände nahm. Für Poole hingegen war das halbe Leben bereits vorbei – und zwar die produktivere, angenehmere Hälfte. Ihm ging die Zukunft aus.
Manchmal, wenn sie sich mit Poole beschäftigte, schien sie nur seine Kleinheit zu sehen. Er war ein dunkles, unglückliches, in sich verschlossenes Geschöpf, gefangen in einer Welt, der es so sehr an Stimuli und Potenzial mangelte, dass es ein Wunder war, wenn die Menschen nicht einfach aus Langeweile und Frustration starben. »Er weiß so wenig«, sagte sie. »Und wenn er stirbt, wird er immer noch nicht viel mehr wissen. Er leidet so sehr. Und dennoch wird er die Geschichte prägen.«
Reath legte ihr die Hand auf die Schulter. »Genau das soll das Beobachten ja bewirken. Wenn man das in die Vergangenheit eingebettete Leben eines anderen versteht, versteht man sich selbst besser.
Aber du musst versuchen, die Dinge weiterhin in der richtigen Perspektive zu sehen, Alia. Die Menschheit hat diesen schrecklichen Engpass hinter sich gebracht. Und die Zukunft dieser beschränkten kleinen Gattung war in der Tat erstaunlich…«
Nach ihrem langen, erdgebundenen Prolog brach die Menschheit so plötzlich von ihrem Planeten auf »wie ein Vogelschwarm, der von einem Baum auffliegt«, sagte Reath.
Es folgte eine Erforschungs- und Kolonisierungswelle, bei der Michael Pooles Nachfahren eine wichtige Rolle spielten. Doch nach der überraschenden Entdeckung, dass es in der Galaxis nur so wimmelte von oftmals uralten und bösartigen außerirdischen Kulturen, wurde diese Expansionswelle mehrmals zurückgeschlagen. Einmal sogar biszur Erde selbst.
Nachdem die außerirdischen Besatzer der Erde gestürzt worden waren, meldete sich die Menschheit stark, vereinigt und zielstrebig zurück. Ihre Zielstrebigkeit habe vielleicht etwas Krankhaftes gehabt, meinte Reath. Die damalige Regierung, die mächtigste Zentralgewalt, die es in der Menschheitsgeschichte jemals gegeben hatte, trug den Namen »die Koalition«. Eine neue Expansion, eine schäumende Gischt aus Krieg, Eroberung und Assimilation, fegte über das Antlitz der Galaxis hinweg. Sie dauerte fünfundzwanzigtausend Jahre, aber schließlich befand sich das Zentrum der Galaxis in den Händen der Menschen, und Legenden über die siegreichen Krieger, die »Triumph-Generation«, hallten durch die späteren Zeiten.
»Etwas ›Krankhaftes‹?«, fragte Alia. »Das ist eine seltsame Wortwahl.«
»Aber in gewissem Sinn war es ein Krankheitsbild«, meinte Reath. »Denk darüber nach. Die Koalition beherrschte die Menschheit fünfundzwanzigtausend Jahre lang! Diese Periode ließ sich fast mit dem damaligen Alter der Gattung vergleichen. Während all dieser Zeit kontrollierte die Koalition die Kultur, die Politik – und sogar das genetische Schicksal der Menschheit. Die Soldaten, die schließlich in den galaktischen Kern vordrangen, waren bis auf ein paar geringfügige Abweichungen so menschlich wie Michael Poole. Es war unnatürlich, Alia! Deshalb sage ich, es war krankhaft. Eine Art Wahnsinn hatte die Menschheit befallen; wir wurden einzig und allein durch den galaktischen Krieg definiert.«
»Aber es war ein erfolgreicher Wahnsinn.«
»O ja!«
Nach dem Sieg konnte das Zentrum die galaktische Menschheit nicht mehr kontrollieren. »Es war, als hätten die Menschen einen Waffenstillstand geschlossen, um gegen die Aliens Krieg zu führen. Doch nach der Eroberung der Galaxis ging die alte Geschichte weiter – die übliche, blutige Geschichte.«
Die große Expansion, die ihren Höhepunkt im Triumph-Sieg fand, hatte mit den meisten nichtmenschlichen Lebensformen aufgeräumt oder sie an den Rand gedrängt, sodass die Galaxis nun eine leere Bühne für ein weiteres menschliches Drama war. Neue Ideologien tauchten auf, und Nachfolgestaaten sprossen wie Unkraut in den Trümmern des Imperiums. Jeder von ihnen legitimierte sich unter Berufung auf die zusammengebrochene Koalition. Das Zeitalter der Konflikte hatte eine Galaxis mit umfangreichen Waffenarsenalen hinterlassen, und die folgenden Kriege, motiviert von wirtschaftlichen und ideologischen Interessen, Ruhm und Ehrgeiz, verschlangen Jahrtausende und zahllose Leben.
»Es war kein edles Zeitalter«, sagte Reath, »auch wenn es jede Menge Helden hervorbrachte. Und alles spielte sich im Schatten der monumentalen Errungenschaften der Triumph-Generation ab.
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