Transzendenz
die kleine, dunkle, unglückliche Gestalt von Michael Poole ihr Gefährte und ihr Ankerpunkt.
Man glaubte, dass die Menschheit rund sechshunderttausend Jahre alt war – das hieß, sechshunderttausend Jahre, seit der Grundstock von Vorläuferformen abgewichen war. In den ersten hunderttausend Jahren, einer Periode, die tatsächlich zu Michael Pooles Lebzeiten geendet hatte, war die Menschheit auf die Erde beschränkt gewesen. Diese Ära war die lange und größtenteils uninteressante Saga einer tastenden Entwicklung hin zur Rationalität und zur Beherrschung der Materie inmitten endloser Kriege.
»Das Interessanteste an der Menschheit in dieser langen Phase der Erdgebundenheit ist ihre Fragilität«, sagte Reath. »Denk darüber nach. Die Menschheit war an eine felsige Welt in einem abgelegenen Winkel der Galaxis gefesselt – ja, eingesperrt in eine Membran aus Wasser und organischen Stoffen, die über die Oberfläche des Planeten verschmiert waren. Bis in Michael Pooles Zeit war dies das einzige bekannte Leben im ganzen Universum! Schon die kleinste Störung hätte uns auslöschen können – hätte die Menschheit vernichten können, bevor es überhaupt richtig losging –, und das wär’s dann gewesen.«
Diese schreckliche potenzielle Katastrophe ließ Alia erschaudern. »Pooles Generation hat ihre Zeit als Flaschenhals bezeichnet.«
»Zu Recht«, erwiderte Reath. »Aber das war nicht die einzige kritische Phase. Es finden sich etliche Momente in der menschlichen Geschichte, wo wir dem Untergang nahe waren. Siebzigtausend Jahre vor Michael Pooles Zeit gab es einen ungeheuer starken Vulkanausbruch, der die Klimasysteme des Planeten völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Noch früher, als die Menschheit erst eine Gattung aufrecht gehender Affen unter vielen war, reduzierte eine Seuche den Grundstock auf ein paar Dutzend Exemplare. Die Menschheit bestand plötzlich nur noch aus knapp fünfzig Angehörigen! Stell dir das vor. Selbst jetzt finden sich noch Spuren solcher Zeiten in unserem genetischen Erbe, die Indizien einer schrecklichen Vereinfachung. Im Unterschied dazu war Pooles Flaschenhals die erste anthropogene Krise – die erste direkt von den Handlungen der Menschheit verursachte Krise.
Es ist keine große Überraschung, dass wir uns als Beobachter zu Flaschenhälsen hingezogen fühlen. Das sind die gefährlichsten Zeiten für die Menschheit, die dramatischsten Zeiten – aber auch die bewegtesten und chancenreichsten.«
Alia sah Michael Poole an, sein sorgenvolles, in Reglosigkeit gefangenes Gesicht in ihrem Beobachtungstank. In dieser Episode befand er sich draußen im Freien, in einer fremdartigen Landschaft. Im heißen, dichten Sonnenschein kletterte er über einen gewaltigen Trümmerhaufen aus zerschmetterten und ausrangierten Maschinen hinweg. »Hier ist er zweiundfünfzig«, sagte sie. »Er tritt gerade in die kritischste Phase seines Lebens ein.«
»Er sieht besorgt aus.«
»Das ist bei ihm häufiger der Fall«, sagte sie trocken. »Poole kannte die Gefahren seiner Zeit sehr gut. So wie die meisten gebildeten Menschen damals, glaube ich. Nach der Gefahr, mit der sein Sohn es zu tun bekam, erfasste er die Implikationen allerdings besser als die meisten anderen. Schließlich arbeitete er an einem Geotech-Projekt.«
»Und er war ein Poole«, sagte Reath ein wenig ehrfürchtig.
»Aber sie waren so beschränkt – alle Menschen seiner Zeit, sogar Poole selbst. Das Beste, was man über sie sagen kann, ist, dass sie allmählich begriffen, wie wenig sie wirklich wussten.«
»Und sind es die Probleme der Erde, die ihn so bedrücken?«
»Mehr als das«, sagte sie. »Er kommt mit seiner Arbeit nicht gut voran. Und auch privat ist es für ihn eine schwierige Zeit…« Sie fuhr die Projektion hin und her; Poole blieb im Zentrum der flackernden Bilder, während um ihn herum Menschen implodierten.
In ihrer Jugend hatte Alia sich bei ihren Beobachtungen auf die zugänglicheren Momente von Pooles Leben konzentriert: seine glückliche Kindheit, wie er als junger Mann die Liebe entdeckt hatte. Nun hatte Reath sie mit sanfter Überredung dazu gebracht, sich auf diese Phase zu konzentrieren, die schwierigste Zeit seines Lebens – vielleicht Pooles eigener Flaschenhals. Aber es fiel ihr sehr schwer, sich in die Gedankenwelt eines zweiundfünfzigjährigen Mannes aus der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu versetzen. Alles an seinem Leben war so anders. Sie selbst würde im Alter von fünfzig bis
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