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Transzendenz

Transzendenz

Titel: Transzendenz Kostenlos Bücher Online Lesen
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Auswirkungen allein auf die alte Autostadt Detroit waren schon schlimm genug, weil die alten Werke entweder schlossen oder mühsam auf die Fertigung einer erheblich geschrumpften Menge intelligenter neuer Wasserstoffwirtschaftsfahrzeuge wie Kapselbusse umrüsteten. Ein ganzes Bündel von Zuliefererbranchen musste die Kehrtwende mitmachen oder die Tore schließen. Die alte Öl-Infrastruktur musste auf das neue Wasserstoff-Biokraftstoff-Paradigma umgestellt werden. Kunststoffe auf Erdölbasis wurden auf einmal kostbar. Es war das Ende der Mehrfachverpackungs-Wegwerfkultur, mit der ich aufgewachsen war.
    Während dieser ganzen Periode arbeitete ich weiterhin in der Atomkraftindustrie. Trotz des Booms der VR-Technologie verbrachte ich viel mehr Zeit auf Reisen, als es mir lieb gewesen wäre. Vielleicht trug das zu der Krise bei, in die meine Familie später geriet.
    Natürlich war es für die Nation ein gewaltiges Risiko. Die Vereinigten Staaten als Ganzes waren in einer Welt, die ökonomisch auf Kohlenwasserstoff-Kraftstoffen beruhte, reich und mächtig geworden; jeder Schritt weg von diesem Fundament barg politische und wirtschaftliche Gefahren. Doch wir hatten solche tief greifenden ökonomischen Umbrüche schon früher durchgemacht, zum Beispiel um 1900 herum, als das Erdöl der Kohle den Rang abgelaufen hatte. Schon nach ein paar Jahren besserte sich die Lage allmählich, und der Wandel war so stark verankert, dass wir uns wunderten, wieso wir den Sprung nicht schon viel früher gewagt hatten.
    Letzten Endes war der Verzicht nur eine Frage der Willenskraft, und es gelang Amin, diese in ausreichendem Maße zu mobilisieren.
    Aber Amins Politik mit ihrem Schwerpunkt auf den inneren Angelegenheiten hatte eine Schattenseite. Es war ein besonders schlimmes Jahrzehnt. Natürlich drehte sich alles um die Klimaerwärmung. Der Zugang zum Wasser stand im Zentrum vieler Konflikte vom Nil über den Amazonas bis hin zur Donau. Der Klimawandel löschte ganze Nationen aus – sogar die Niederlande wurden entvölkert. Amerika war nicht immun; es gab Dürren im Maisgürtel und einmalige Katastrophen wie den Hurrikan von New Orleans. Überall auf dem Planeten kam es zu Hungersnöten und Krankheiten, die Wüsten dehnten sich aus, und Flüchtlingsscharen zogen umher. Als die Erdölwirtschaft zusammenbrach, implodierten die Petrostaaten mit verblüffender Schnelligkeit, was eine neue Serie von Problemen auslöste.
    Und während all dies geschah, blieb Amerika untätig. Der einzige Staat, der wirklich die Macht gehabt hätte zu helfen, stand gänzlich im Bann des Automobilverlusts. Unsere Introvertiertheit endete erst mit dem Jahrestags-Bombenanschlag von 2033, einem wahrhaftigen Weckruf. Daraufhin erfolgte die Gründung des Patronats unter Edith Barnette, Amins ehemaliger Vizepräsidentin: Amerikas »Marshall-Plan für eine übel zugerichtete Welt«. Als Erstes retteten wir die Petrostaaten, wie wir ein paar Jahre zuvor Detroit gerettet hatten. Mittlerweile hatte Präsidentin Amin selbst ihren Preis bezahlt: Eine Woche nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt war sie ermordet worden. Aber sie hatte die Welt verändert.
    Ich versuchte, Tom das alles zu erklären. Bei Amins Ermordung war er zehn Jahre alt gewesen; er erinnerte sich noch an dieses Trauma. Ich dachte, er wolle über die verlorenen Freiheiten des Automobilzeitalters – auf die wir ein selbstverständliches Anrecht zu haben glaubten – Bescheid wissen. Ich weiß noch, wie stolz ich auf meinen ersten Wagen war, einen ramponierten 2010er Ford, den ich polierte, bis er so glänzte wie die Sonne von Florida. Ich vermisste das Autofahren – nicht nur die damit verbundene Freiheit, sondern auch das Fahren selbst, eine einzigartige soziale Interaktion, die stattfand, wenn man sich in der freitäglichen Stoßzeit durch den dicken Verkehr wühlte. Verschwundene Fähigkeiten, aufgegebene Freuden.
    Tom starrte jedoch die Bilder dieses gewaltigen Verkehrsstroms an, der sich noch vor ein paar Jahren über die nunmehr verlassenen Straßen ergossen hatte, und er sah das Gift, das sich von diesen dahinkriechenden Fluten roter Lichter und glänzenden Blechs ausbreitete, das Land schwärzte und die Luft wie einen Marshimmel färbte. Dann klickte er auf die Links zu den Unfallstatistiken: Wie viele Tote pro Jahr? Unmöglich, dass Tom, der nie ein eigenes Auto besessen hatte und nie eines besitzen würde, diesen Preis für einen wie auch immer gearteten Traum von Freiheit als gerechtfertigt erachtet

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