Transzendenz
machte sie ein, zwei Schritte vorwärts, taumelnd wie ein Baby. Alia spürte, dass das gefangene Geschöpf in seinem Käfig ein wenig ruhiger war, ein wenig mehr Mut gefasst hatte. Doch als sie den Blick senkte, sah sie, wie am Bein ihrer hilflosen Schwester Urin hinablief, ihr Fell durchnässte und im Sand der Schmutzkugel eine Lache bildete. »Tut mir Leid«, flüsterte Alia ihrer Schwester zu, während sie weitergingen. »Es tut mir so Leid.«
21
Ich ertrug einen weiteren Flug über den Atlantik zurück in die Staaten, wieder auf Johns Kosten. Diesmal schlief ich die meiste Zeit, wenngleich das eine Verschwendung der gebotenen Möglichkeiten zu sein schien. In Florida schlief ich meinen Jetlag über Nacht in einem Hotel in Miami aus. Das war mir lieber, als so bald schon wieder der Familie gegenüberzutreten.
Dann machte ich mich mit dem Zug auf die Reise nach Oklahoma City.
Ich befolgte Georges Rat. Um etwas über die Auswirkungen der Freisetzung von Gashydraten herauszufinden, würde ich das Orakel befragen – eine künstliche Intelligenz namens »Global Ecosystems Analyser«, kurz Gea, eine Einrichtung der Universität von Oklahoma. Gea war der Grundpfeiler des Zentrums für Klimamodellierung, das einer Patronats-Organisation namens »Forum für Biosphärenwandel« unterstand.
Es war eine lange Fahrt. Der Zug trug mich über die Ebenen von Oklahoma, endlose Flächen aus verbrannter brauner Erde mit lauter verlassenen Farmhäusern. Nur dort, wo die Wasserstrahlen von Sprinklern in die Luft stiegen, wuchs etwas Grünes. Dies war die zwanzigjährige Dürre, wie die Medien es nannten. Schnee von gestern. Ich wandte mich ab, um auf meinem Softscreen einen Roman zu lesen.
Am Zielbahnhof stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass Shelley Magwood da war, um mich abzuholen.
Ich hatte ein Zimmer gebucht, doch als ich Shelley den Namen des Hotels nannte, tippte sie sich ans Ohr, stornierte meine Reservierung und brachte mich auf Kosten ihres Unternehmens in einem besseren Haus unter. »Betrachten wir es als eine Investition«, sagte sie.
Im Hotel gab sie mir eine Stunde Zeit, meine Sachen auszupacken und zu duschen. Dann bestellte sie uns eine große Zwei-Personen-Rikscha und fuhr mit mir durch die Stadt.
Das Zentrum von Oklahoma City erwies sich als durchaus sehenswert. Es war eine Mischung aus Seen, Parks, landschaftlich gestalteten Hügeln und schicken Gebäuden, die im innersten Stadtzentrum durch ein besonders ausgeklügeltes System von Stegen und Tunnels verbunden waren. Die Stadt schien am menschlichen Maßstab orientiert zu sein, was bedeutete, dass sie das Verschwinden des Automobils ziemlich gut verkraftet hatte. Aber viele der Gebäude stammten noch aus dem zwanzigsten Jahrhundert, und ihr Alter zeigte sich in bröckelndem Beton und rissigen Faszien. Ich sah auch jede Menge Nano-Farbe, die im Sonnenschein silbern oder golden glitzerte.
Und die Verwüstungen der zwanzigjährigen Dürre reichten sogar bis hierher, ins Herz der Hauptstadt des Staates. Rotierende Sprinkler spien Wasser in die Luft, und viele Grünflächen waren mit hauchdünnen Plastikfolien überdacht. Die Stadt war eine Vision aus einem meiner alten Science-Fiction-Romane, dachte ich, eine überkuppelte Kolonie, gestrandet auf einem Wüstenplaneten.
Unterwegs ließ Shelley ein pausenloses Touristengeschwätz vom Stapel. Anscheinend hatte sie hier ein Jahr mit einem Beratungsauftrag verbracht und mochte die Stadt. »Sie sollten sich die Route 66 ansehen«, sagte sie. »Schon mal davon gehört? War einmal die berühmteste Straße Amerikas, die Mutterstraße – wer hat das gesagt, Steinbeck? Jetzt sind einige Abschnitte ein Themenpark zum Automobilzeitalter.« Sie grinste. »Die haben dort sogar funktionierende Benzinautos, Motels und Rasthäuser. Und es gibt Hallen, in die sie giftige Dämpfe pumpen, damit man riechen kann, wie es in unserer Kindheit war. Es ist ein langes, schmales Museum. Man muss es sehen, um es zu glauben.«
Sie ging mit mir in ein Pionierzeit-Restaurant und bestellte uns T-Bone-Steaks, überdimensionale rechteckige Fleischlappen, die buchstäblich die Teller bedeckten, auf denen sie serviert wurden. »Keine Sorge«, erklärte sie mir, während sie kräftig zulangte. »Die Kühe sind würfelförmig, und das Fleisch ist genmanipuliert. Man kann dieses Zeug den ganzen Tag essen, ohne dick zu werden.«
Sie war eine angenehme Begleiterin, klein, nett und intelligent. Ihr kurz geschnittenes, aschblondes
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