Trapez
Mario: »Ich nehme nicht an, dass jemand losgegangen ist und eine Volkszählung gemacht hat. Komm, wir müssen zur Vorstellung.«
An jenem Abend – und ein paar Tage später, als Japan kapitulierte – dachte Tommy weiter, es muss doch mehr bedeuten, als das. Aber im allgemeinen, hinter den Kulissen von Lambeth, reagierten die meisten Showleute ungefähr auf die gleiche Weise wie Lambeth selbst: Söhne, Brüder und Väter würden nach Hause kommen, neue Reifen waren mal wieder eine entfernte Möglichkeit und die Budenbesitzer auf dem Rummelplatz redeten voller Hoffnung vom Ende der Zuckerrationierung.
Mario sprach nicht wieder davon, und Tommy wünschte, dass er es täte; er hätte gerne darüber geredet, aber Mario hatte sich wieder zurückgezogen. Er und Tommy sahen sich zweimal am Tag während der Show und arbeiteten nebeneinander auf den Trapezen, aber Mario hätte ebensogut am anderen Ende der Welt sein können.
Eines Morgens, als sie zum Proben herauskamen, unterbrach Sue-Lynn Farris ihre Lockerungsübungen mit Margot am Netz und rannte zu Mario, sah aufgeregt zu ihm hoch und redete schnell. Tommy konnte nicht hören, was sie sagte, aber Mario lächelte entgegenkommend und schüttelte seinen Kopf.
»Ach, jetzt komm, Matt, sei nicht gemein!«
»Sue-Lynn, du hast selbst gesagt, du bist sechs Monate nicht auf dem Flugtrapez gewesen. Das gibt es nicht, fertig.« Er gab ihr einen freundschaftlichen Klaps auf den Arm und machte weiter.
Als sie die Leiter hinaufkletterten, fragte Tommy:
»Was wollte sie?«
»Was glaubst du wohl? Oh, verdammt«, sagte Mario und blickte zurück. Sue-Lynn kletterte ihnen nach, stieg auf die Plattform mit einem frechen Grinsen.
»Hab’ dir doch gesagt, für mich gibt es kein Nein!«
»Sieh mal, Sue-Lynn, willst du, dass ich Ärger mit Papa Tony kriege?«
Das Mädchen lachte bloß . »Ach, komm, du Miesepeter.
Ich hab’ fliegen gelernt, als ich ungefähr zehn war. La ss es mich bloß einmal probieren.«
»Ich glaub’, das ist die einzige Möglichkeit sie loszuwerden«, sagte Mario resignierend. »Gib ihr die Stange, Tommy.«
Verdrießlich zog Tommy sie vom Haken und gab sie ihr. Es war das erste Mal , dass er Mario hatte nachgeben sehen, wenn es um die Arbeit ging.
»Die hat vielleicht Nerven«, grummelte er, aber Mario beobachtete sie beim Herausschwingen, mit zusammengekniffenen Augen, als sie die Stange hinter ihrer Hüfte abstützte.
»Gute Muskeln, aus der Übung natürlich, und kein sehr guter Stil.«
Sue-Lynn sprang wieder ab und gab Tommy das
Trapez in die Hand. »Hab’s dir doch gesagt«, sagte sie lachend.
»Ja, nicht schlecht. Oh, oh, jetzt gibt’s Ärger!« murmelte Mario als Papa Tony zum Fuß der Leiter kam und offensichtlich Feuer spie. Er schrie Mario auf Italienisch an, holte Luft und schrie wieder. »Kommt runter da, alle!«
Mario bedeutete Sue-Lynn eine einladende Geste: »Die Dame zuerst.«
Erst nach fünf vollen Minuten unterbrach Papa Tony seinen Schwall von Beschimpfungen, um Luft zu holen.
Eine der striktesten Regeln bei den Santellis war, dass kein Außenstehender je ohne seine persönliche Zustimmung auf das Trapez gehen durfte.
Sue-Lynn sagte demütig: »Es war meine Schuld, Mr.
Santelli! Matt hat mir gesagt, dass ich nicht raufkommen darf, und ich bin trotzdem gegangen. Ehrlich, ich weiß , was ich da oben tue. Mein Vater ist Pete Challoner…«
»Ich hab’ nie von ihm gehört«, sagte Papa Tony eisig.
»Und wenn Sie uns jetzt entschuldigen wollen, junge Frau, meine Truppe und ich sind beim Proben.«
Angelo war rechtzeitig dazugekommen, um den Schlu ss zu hören. Er stieß Mario in die Rippen. »Komm, Matt, du weißt , dass du dein Mädchen nicht mit aufs Trapez nehmen darfst, ohne Papa Tony vorher zu fragen!«
»Ich hab’ sie nicht mit raufgenommen«, protestierte Mario.
Papa Tony, der nachdenklich Sue-Lynn betrachtete als sie wegging, sagte langsam: »So, Matty, es ist wohl nur gerecht. Immerhin habe ich ja Angelo erlaubt, Teresa das Fliegen beizubringen. Beim nächsten Mal frag mich vorher. Nicht hinterher.«
An einem anderen Morgen, als keine Probe war, schaute Mario, in Jeans und dem hochgeschlossenen schwarzen Pullover, den er in der Ballettschule trug, mit Sue-Lynn, in einem leuchtenden Kleid, beim ZaneWohnwagen vorbei.
»Hast du nicht mal gesagt, dass du mit Little Ann Schlittschuhlaufen wolltest? Sue-Lynn sagt, dass es in dieser Stadt eine große Bahn gibt, und sie ist ‘ne Wucht auf Schlittschuhen. Ich bin auch
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