Trapez
schon einen Monat unterwegs sein würde und sich mit einer gleichwertigen Bescheinigung würde zufriedengeben müssen. Er interessierte sich nicht sehr für die Aufregung einer Abiturklasse.
Er ging normalerweise mit Barbara zur Schule und zurück. Es war angenehm, wenn man beachtet und bewundert wurde wie ein älterer Bruder. Es machte ihm wirklich Spaß , ihr in den Mantel zu helfen, die schwersten ihrer Schulbücher zu tragen und einmal, als sie stehenbleiben mu ss te, damit er ein heruntergefallenes Blatt aus ihrem hellen Haar entwirren konnte, fühlte er einen Hauch reiner Zärtlichkei t. Barbara war nie mit dem Zir kus auf Tournee gewesen und endlos fasziniert von dem, was er ihr vom Leben unterwegs erzählen konnte. Aber eines Tages vertraute sie ihm ihr größtes Geheimnis an.
Obwohl sie das Fliegen mochte und wie selbstverständlich die Familientradition erlernt hatte, war ihr wirklicher Ehrgeiz nicht das Fliegen, sondern das Tanzen. Nicht das klassische Ballett, das Mario liebte – und das Barbara, seit sie sieben Jahre alt war, gelernt hatte –, sondern die großen Film-Musicals. Sie hatte schon an vielen Tanzabenden teilgenommen und ihren Vater gebeten, sie für ein Vortanzen anzumelden.
»Aber«, so schlo ss sie mi ss mutig, »Kalifornien wimmelt nur so von hübschen Mädchen, die unbedingt zum Film wollen, alle hübscher als ich.«
Tommy sah sie ernst für ein paar Minuten an, und sie schmollte, weil er das erwartete Kompliment zurückhielt.
Dann sagte er: »Aber du bist nicht bloß ein hübsches Mädchen, Barbie, du bist eine Balletttänzerin , eine gute, nicht von einer dieser Schulen, die die Mädchen auf die Bühne oder in den Film hetzen. Und du hast auch akrobatisches Training.«
»Wie viele Filme brauchen Mädchen als Akrobaten?«
»Ich glaub’, es gibt ein paar. Aber ich meine, dass du mehr bist als nur ein hübsches Gesicht. Du kannst was, und wenn du zum Film kommst, würdest du nicht nur eine aus der Menge sein – du wärst etwas Besonderes.«
Samstags gingen sie zusammen ins Kino. Während Clay mit einer Horde kleiner Jungs verschwand, saß Tommy mit ihr im Rang und einoder zweimal während jeder Vorstellung legte Barbara ihre warme, weiche kleine Hand in seine; einmal, während einer Liebesszene, suchte sie in seiner Umarmung nach einem vagen Trost, ohne sich dessen bewu ss t zu sein. Tommy hatte stilles Gefallen daran. Aber er war niemals versucht, ihre Hand festzuhalten, sie zu küssen oder daran zu denken. Und einmal, als seine Hand die flauschige Wolle ihres karierten Rockes auf ihren festen, jungen Schenkeln streifte, zog er sie weg, als ob er sich verbrannt hätte. Einmal dachte er, ich liebe Barbie sehr, es ist nur so, wie Mario Liss liebt. Sie ist meine Schwester. Sie saßen jeden Abend nebeneinander im großen Wohnzimmer und machten ihre Hausaufgaben, und einmal kam Großmutter Santelli aus ihrer Verworrenheit heraus, um sie alle einen Abend lang zu beobachten; und als Lucia kam, um die verwirrte alte Dame ins Bett zu bringen, zirpte sie: »Buon’ notte, Matteo, Elissa.«
Tommy lernte mit Barbara, und einmal, nachdem er artig Papa Tony um Erlaubnis gebeten hatte, trat er mit ihr in einer Schultalent-Show auf. In dunkelroten Trikots führten sie eine komplizierte Akrobatennummer vor. Einmal – nur einmal, und nur nach wiederholtem Betteln von Barbara – legte Mario eine Chopin-Platte auf den Plattenspieler und tanzte mit Barbara einen komplizierten Pas de deux. Tommy fühlte, wie sich in ihm, schmerzvoll vertraut, etwas zusammenzog, als er zusah. Barbara war niedlich mit ihren hellbraunen Locken und dem anmutigen Tüllrock, aber Tommys Aufmerksamkeit war auf Mario gerichtet: gertenschlank, so stark wie Stahl, mit einer überwältigenden Spannung, die Tommy noch nie bei ihm gesehen hatte, nicht mal beim Dreifachen. Beim Tanzen hatte er etwas von der intensiven, überschäumenden Kraft, die auch Cleo ausstrahlte. Das unmi ss verständliche Zeichen eines Stars. Als sie beim Höhepunkt der Vorstellung verharrten und Mario Barbara auf seine Schulter gehoben hatte, war Tommy dankbar für die Dunkelheit im Raum. Solche Schönheit war fast zu intensiv, um sie ertragen zu können. Und er konnte nicht verstehen, warum die anderen unbeweg t waren, und Barbara bloß hübsche Komplimente für ihr Tanzen machten.
Mario war still für den Rest des Abends und lag auf dem Teppich, sein Kopf ruh te auf dem Kissen zu Lucias Fü ss en. Tommy dachte, dass er nach Haus gegangen war, aber
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