Trapez
sich dabei zusah, wie er den Kolophoniumbeutel in seine Hände nahm, und verlor die Zeit aus den Augen…
War es jetzt oder war es vor Jahren? Dann war Mario neben ihm und betrat die Leiter mit den alten, sorglosen, großen Gesten. Am anderen Ende strahlten Scheinwerfer auf Johnnys helles Haar.
»Okay, Lucky, du zuerst. Warte auf meinen Ruf.«
Stellas Hände waren ruhig, als sie ihm die Stange gab, sie zitterten jetzt nicht, steinhart vor Konzentration. Die Stange nehmen, in einem langen Schwung herausschießen , Spannung in den Schultermuskeln, Aufschwung, Rückschwung, damit spielen, tauchen, das lange taumelnde Gefühl des freien Fluges. Johnnys Hände greifen, sich mit ihnen ve rschränken, der lange, atemlose Rückschwung, die Erregung, wenn sich die Finger wieder ums Trapez schließen und er zuvor schon mit dem langen Sturz und Fall gerechnet hatte… Füße , die auf die Plattform klatschen. Stella flog wie ein Pfeil, scho ss hinab.
Mario. Mario flog, sein Körper verschmolz zu einer perfekten Linie. Tommy, der fühlte, wie sich seine eigenen Schultermuskeln in Übereinstimmung spannten, wu ss te für einen Moment kaum, ob Mario in Johnnys Händen gelandet war oder in seinen. Perfekte Verbindung, perfekter Flug, Mario und Stella rauschten wie Vögel aneinander vorbei.
Und doch war seine Aufmerksamkeit bei all den Traumbildern so scharf eingestellt wie nie zuvor. Stellas Körper fühlte sich glatt, hart und unpersönlich an. Und doch nahm er sie so intensiv wahr, dass es fast ein sexueller Schmerz war. Marios Augen, die einen Moment in seine sahen. Mario im Flug. Der präzise, endlose, zeitlose Rhythmus des Fliegens…
Dann war es vorbei, und sie tauchten einer nach dem anderen ins Netz und posierten für einstudierte Verbeugungen . Tommys normales Bewu ss tsein kam kalt und zitternd zurück. Er wu ss te, dass auf den Monitoren die vorbereiteten Trickaufnahmen immer weitergingen, endlos, perfekt… Aber für sie war es vorbei. Cleo Fortunati kam und sprach mit ihm, und er schaffte es, ihr entgegenkommend zu antworten, wu ss te aber nicht, was sie gesagt hatte. Mario war neben ihm, ihre Hände berührten sich einen Augenblick lang. Johnny sah bla ss aus, fast krank und beantwortete Fragen und nahm Glückwünsche entgegen. Stella sah auch bla ss aus und klein, aber immer noch grö ss er als Cleo Fortunati, die zu ihr kam und sie umarmte und Dinge sagte, die Stella wie ein gelobtes Kind erglühen ließen .
Bart Reeder kam lächelnd in sein Blickfeld und schüttelte Tommy freundlich und korrekt die Hand und machte ihm förmliche Komplimente, die für die Ohren der Außenstehenden bestimmt waren. Dann flüsterte er: »Ich sag’ dir morgen, was ich wirklich davon halte«, mit einem schnellen, wissenden Grinsen. Mario und Bart gaben sich die Hände, und Zeitungsreporter machten Aufnahmen von ihnen beiden. Und auch das konnte das stolze Lächeln nicht von Marios Gesicht verdrängen. Jetzt ist alles in Ordnung mit Mario. Hier gehört er hin, hier gehören wir hin.
Wieder im Umkleideraum rieb er die Wasserschminke ab und fühlte die durch die Rückstände entstandene Härte seiner Haut. Es gab einen Empfang für die Fernsehleute, die Zirkusleute und die Leute vom Filmstudio. Tommy zog sich gerade den guten dunklen Anzug an, den er eigens für diesen Anla ss gekauft hatte, den ersten, der ihm je gehörte, als Mario ihm sein Handgelenk hinstreckte, das durch das Band klebrig war. Eine alte Erinnerung versuchte durchzudringen, als Tommy das Klebeband abzog und dann Mull und Pflaster um die wundgescheuerten Handgelenke wickelte.
»Wozu überhaupt dieser ganze Empfang?« fragte er.
Mario zuckte die Achseln. »Was weiß ich. Reklame für Johnny vielleicht oder vielleicht für den Parrish-Film.
Was spielt das schon für eine Rolle? Die Getränke sind frei.«
Beim Empfang kam Cleo auf Mario zu und fragte etwas gekränkt: »Warum war Lucia nicht hier? Ich wollte sie wirklich gern sehen.«
»Sie lä ss t dich herzlich grüßen , Cleo, aber sie hatte Tessa schon versprochen, sie mit zur Ostermorgenmesse zu nehmen.«
Cleo sah hübsch au s, ungewohnt in ihrem tiefausge schnittenen Abendkleid. Ihr Mund legte sich in ein sanft amüsiertes Lächeln.
»Das hätte ich von Lu erwarten sollen. Sie würde um nichts in der Welt hier runterkommen. Aber nach dem, was sie für mich getan hat, als ich mich verletzt hatte, spielt das keine Rolle mehr.«
»Was hat sie getan, Cleo?« fragte Mario.
»All die Jahre, seit sie ihren
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