Trapez
in Marios müden Augen.
KAPITEL 11
Als der März vorüberging, schien das Santelli-Haus leer und ruhig zu sein. Das Einerlei der täglichen Arbeit hatte nachgelassen. Ihre Nummer war fertig für die Spielzeit, und die Übungsstunden wurden zu routinemäßigen Durchläufen.
Tommy fühlte sich seltsam ruhelos. Er beherrschte alle einfachen Tricks, die er in diesem Jahr machen durfte.
Die anderen ruhten sich aus, faulenzten rum und genossen das Frühlingswetter. In ein paar Wochen, so wu ss te er, würden sie zum Winterquartier fahren und dort ungefähr eine Woche zubringen, um in der Hektik der letzten Minuten die Nummer n zusammenzustellen, Kostümpro ben zu machen und um sich mit ihren sonstigen Pflichten in der Show vertraut zu machen, bevor Lambeth auf Reisen ging.
Das sogenannte normale Leben bedeutete Tommy immer weniger. In der Schule war er ein Einzelgänger, ein Außenseiter , ein Schatten unter den anderen Schülern. Er trug etwas in der Klasse vor, gab seine Hausaufgaben ab, trank sogar ab und zu mal eine Coke mit seinen Klassenkameraden oder blä tterte mit ihnen Magazine am Zei tungsstand durch, aber er fühlte sich mit seinen Gedanken ganz woanders. Manchmal erinnerte er sich an die alte Frage seiner frühen Kindheit: Stellen sie im Winter auch das Publikum ab?
Er glaubte felsenfest daran, denn auch er lebte mitten unter diesen Leuten da draußen – und gehörte trotzdem nicht richtig zu ihnen. Nicht da draußen unter ihnen. Der einzige Ort, an den er jetzt gehörte, schien innerhalb der vier Wände des Übungsraums zu sein. Nur dort wu ss te er, was er tat und wo er war, und er arbeitete und übte, bis sogar Mario, der Perfektionist, ihm streng sagte, dass genug genug sei. Während die Frühlingstage auf dem Kalender verflogen, wuchs seine innere Spannung. Er vermisste Johnnys laute Stimme und seine nicht zu bremsende Fröhlichkeit, er vermisste Stella, er vermisste sogar Liss und das laute, ermüdende Baby. Wenn er glaubte, er würde platzen aus reiner, nervöser Unfähigkeit stillzusitzen, ging er hinunter und versuchte, seine angestaute Energie auf dem Trampolin loszuwerden und wiederholte die alten Turnübungen mit anhaltender Leidenschaftlichkeit.
Eines Tages rief Lucia ihn in ihr Nähzimmer und nahm Maß , zeigte ihm die Entwürfe für sein Kostüm. Tommy hatte sein ganzes Leben lang schöne Kostüme getragen und es immer genossen, sie zusammenzuste llen und sich darum zu kümmern, aber das Kostüm für seine erste Saison als Flieger war etwas Besonders.
Traditionsgemäß trug der Starflieger bei den Santellis Gold von Kopf bis Fuß ; viele Jahre lang war das Papa Tony. Letztes Jahr wurde die Entscheidung gefällt, Mario in den Mittelpunkt zu stellen und ihn in Gold zu kleiden: Enganliegende Trikots aus Goldstoff, goldene Pailletten, goldene Hosen. Aber nachdem Lucia Mario und Tommy bei ihrer Duo-Nummer beobachtet hatte, bestand sie darauf, dass sie gleich gekleidet waren. Der Streit tobte fast eine Woche, bis Angelo Papa Tony verschreckt, Lucia schwer beleidigt und sie alle überrascht hatte, als er eines Abends bei Tisch seinen Kopf hob und verdrossen sagte: »Diese ganze verdammte Sache langweilt mich wahnsinnig. Was macht es schon für einen Unterschied?
Warum lassen wir das Gold nicht einfach sein und nehmen irgendeine andere Farbe? Mir wird schon ganz schlecht von dem ganzen grünen und goldenen Hin und Her – wie eine verdammte Herde Papageien!«
Barbara kicherte und verbarg hastig ihr Gesicht in ihrer Serviette.
»Die Santellis haben immer grün und gold getragen«, protestierte Lucia.
»Liebe Lulu, ich weiß das«, sagte Angelo und legte seine Gabel hin. »Ich bin seit vielen Jahren in diesem Akt, und ich bin weder blind noch – leider – taub. Ich hab’
hier gesessen und hab’ euch über eine Woche beim Streiten zugehört, und…«
»Wenn du meine Kostüme nicht magst, Angelo…«
»Lu, verdammt…«
»Und fluch nicht mit mir!«
»Lucia, Lucia«, sagte Angelo mit einem Seufzer, der von ganz tief innen zu kommen schien. »Das habe ich nie gesagt, dieser ganze Stre it ist verdammter – Entschuldi gung, dieser ganze Streit ist Unsinn. Und das wi ss t ihr genauso gut wie ich. Wenn wir unsere Farben jedes Jahr wechselten, hätte es ja ein bi ss chen Sinn, aber wir tun’s nie. Also, warum machen wir die Kostüme nicht wie es dir pa ss t, ohne all diesen Ärger? Niemand hat was dagegen! Oder, besser noch, bestell die Dinger fertig geschneidert und gönn dir ‘ne
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