Trau niemals einem Callboy! (German Edition)
Mit konzentriertem Gesichtsausdruck mustert sie, was da vor uns liegt, scheint zu überlegen. Dann fährt sie mit ihrer Hand darüber. Fegt alles in einem ungeordneten Haufen zusammen und murmelt etwas.
Noch bevor ich etwas sagen oder protestieren kann, ist sie auch schon aufgestanden. Geht weg. Schneller, als ich es ihr zugetraut hätte. Schaut sich noch einmal über die Schulter nach mir um. Schüttelt den Kopf und geht weiter. Verschwindet.
Eine Verrückte. Meine gute Laune ist verflogen. Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. Warum hat sie nicht gesagt, was sie gesehen hat? Entschlossen schüttele ich diese Gedanken ab. Das Ganze bringt mich nicht weiter, und ich bin hier, um all diesen Sorgen zu entfliehen.
Hoffentlich ist sie zu Hause! Etwas nervös betrachte ich das schmiedeeiserne Tor, das den Zugang zu Annas Haus bewacht und den schmalen Steinweg der dort hinführt. Die Mauern sind mittlerweile zu einem verwaschenen Altrosa verblasst. Als ich Anna das letzte Mal besuchte, war die Farbe frischer, lebendiger. Anna hatte das Haus damals neu streichen lassen, aber das ist schon Jahre her.
Es dringt kein Laut zu mir heraus. Vielleicht schläft sie noch. Ich zögere. Will sie eigentlich nicht wecken, wenn ich schon unangemeldet bei ihr hereinplatze. Dann aber gebe ich mir einen Ruck, stoße das Tor auf und gehe über die Steinplatten zur Eingangstür. Wenn ich sie wecke, ist das eben Pech. Hauptsache, sie freut sich darüber, mich zu sehen.
Gerade, als ich die Hand hebe, um an die Tür zu klopfen, wird sie sachte geöffnet, eine Katze huscht hindurch und verschwindet wie ein Schatten in den Büschen. Anna steht im Eingang. Verblüfft starrt sie mich an.
„Hallo, Anna.“
„Wenn das nicht … Tamara! Ich glaube es nicht!“ Erleichtert registriere ich das strahlende Lächeln, das sich auf Annas Gesicht ausbreitet.
„Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.“
„So ein Unsinn. Komm rein. Ich freue mich. Wir haben uns ewig nicht mehr gesehen.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, zieht Anna mich in ihr kleines Häuschen, führt mich durch den dunklen Flur zur Terrasse, die an der hinteren Seite des Hauses liegt. Dort hat sie ein kleines Paradies geschaffen. Aus großen Tonkübeln quellen bunte Blumen, zwei kleine Palmen spenden Schatten, und bequeme Korbmöbel laden dazu ein, hier den Tag mit einem guten Buch zu verbringen.
Es dauert nicht lange, bis ich in einem gepolsterten Rattansessel sitze, eine dampfende Tasse Kaffee und ein ofenfrisches Croissant vor mir.
„Wann bist du angekommen? Und warum hast du mir nicht vorher Bescheid gesagt? Ist alles in Ordnung mit dir und Ron?“
Lächelnd hebe ich die Hand. „Eins nach dem anderen, okay?“
Anna lacht. „Tut mir leid. Es ist nur, dass wir uns schon so lange nicht mehr gesehen haben. Und dann stehst du plötzlich vor der Tür. Ich dachte schon, ich würde dich nie wiedersehen.“
„Entschuldige, Anna“, ich schlucke, merke, wie mir Tränen in die Augen steigen. Was ist nur mit mir los? Entschlossen dränge ich die Tränen zurück, tue so, als müsste ich mich räuspern, bevor ich weiterspreche. „Ich hätte mich öfter bei dir melden sollen. Aber irgendwie … ich weiß auch nicht. Ich dachte, wir hätten uns auseinandergelebt.“
Anna klopft mir verlegen auf die Schulter. Anscheinend hat meine Verdrängungstaktik nicht darüber hinwegtäuschen können, wie gerührt ich bin.
„Vielleicht haben wir uns auseinandergelebt, aber wir können trotzdem befreundet bleiben, meinst du nicht?“
„Das stimmt. Es tut mir leid, Anna. Wirklich.“
Sie winkt ab. „Es ist nicht allein deine Schuld, ich habe dich auch schon lange nicht mehr angerufen. Bei mir hat sich vieles verändert, und ich habe eine Weile gebraucht, um mit mir selbst ins Reine zu kommen. Aber das ist jetzt nicht so wichtig. Erzähle mir von dir! Was führt dich so plötzlich hierher?“
„Ich brauche eine Auszeit, etwas Ruhe und Frieden, und dachte, es sei eine gute Idee, hier ein wenig auszuspannen“, murmele ich, aber Anna mustert mich mit einem fragenden Ausdruck. Ich konnte ihr noch nie etwas vormachen. Sie weiß genau, dass mehr hinter meinem Besuch steckt, als ich zugeben will.
„Es gibt viel zu erzählen. Es sind einige schlimme Sachen passiert“, gebe ich endlich zu. Und dann fange ich an. Erzähle ihr alles. Von Rons Untreue, von der Leiche und davon, wie ich sie in Panik vergraben habe. Dass ich mich verfolgt fühle, bedroht wurde, und nicht weiß, welche Rolle
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