Trauerspiel
falsch verstanden?», fragte Tanja im Auto.
«Das möchte ich auch gern wissen», antwortete Arne, während er den Gurt anlegte und den Opel startete. «Ich bin mir sicher, dass Julia tatsächlich in etwas hineingerutscht ist, was nicht ganz legal war. Wir sollten das umgehend überprüfen, gleiches gilt für Katharina Gutmann. Vielleicht hat Maximilian aber auch nur wieder versucht, von sich als Täter abzulenken.»
Tanja runzelte die Stirn. «Irgendwie kommt er mir zu unfertig vor für so einen grausamen Mord. Aber vielleicht hat sie ihn gereizt und er hat einfach zugestochen.»
Arne nickte und fädelte sich auf die Autobahn ein. «Oder einer hat ihn ganz bewusst als Werkzeug missbraucht, ihm dieses Mordwerkzeug, von dem wir noch nicht einmal wissen, wie es aussieht, zugesteckt und ihm schließlich geholfen, die Leiche zu verstecken.»
Tanja schüttelte es. «So könnte es gewesen sein. Oder er spielt nur so naiv und ist viel gerissener, als wir denken. Immerhin hat er sie die ganze Zeit verfolgt, da steckt schon Energie dahinter. Nein, dieser Knabe steht auf jeden Fall noch unter Verdacht.»
* * *
Zurück im Polizeipräsidium wartete der zweite anonyme Brief auf die beiden Kommissare. Nachdem sie ihn durchgelesen hatten, rief Tanja Susanne auf ihrem Handy an.
«Ich glaube, es wäre gut, wenn du bei uns vorbeischauen könntest. Die Sache wird immer komplizierter.»
Susanne hatte gerade Dienst im Kirchenladen. «Ich bin aber in einer halben Stunde fertig, dann kann ich schnell zu euch rüberradeln. Also, bis gleich.»
* * *
«Ein ekelhafter Wisch», sagte Tanja und gab Susanne den Din A4-Bogen.
«Du kannst ihn ruhig anfassen, es ist eine Kopie, vom Original haben wir alle Fingerspuren gesichert – es waren aber sowieso keine drauf, die wir hätten verwerten können.»
Susanne nahm den Brief entgegen. Ein normales weißes Blatt, nichts Auffälliges, wenn man einmal davon absah, dass der anonyme Schreiber dieselbe Schrifttype benutzte wie der Kirchenpräsident (Arial 9,5). Susanne hatte nie ein inniges Verhältnis zu den Verlautbarungen ihres obersten Vorgesetzten entwickeln können, aber jetzt hätte sie liebend gerne und jubelnd jede Verwaltungsverordnung der Kirchenverwaltung gelesen, wenn sie dafür nicht dieses grässliche Schreiben zur Kenntnis hätte nehmen müssen. Keine Anrede, der Schreiber kam gleich zur Sache.
«Prüfen Sie doch einmal nach, warum sich Sven Rothermund das Leben genommen hat. Er war als Sohn eines deutschen Ingenieurs auf Malta und gehörte zur Gemeinde von Pfarrerin Susanne Hertz. Manche Jugendliche verkraften es nicht, wenn sie sexuell missbraucht werden. Sven war nicht der einzige. Die Kirche breitet wie immer den Mantel des Schweigens über alles. Wer schützt die Kinder?»
Das war es. Susanne erblasste. Sie konnte sich noch gut an Sven erinnern. Ein verschlossener Junge, schmal, helle, kurzgeschnittene Haare, Sommersprossen. Sie hatte ihn und seine Familie besucht, als sie in Valletta ihr Haus bezogen hatten. Svens Vater hatte eine Stelle in einer Firma, die Meerwasserentsalzungsanlagen baute. Sven war von Anfang an nicht glücklich auf Malta gewesen. Er vertrug die Sonne schlecht, vermisste seine Freunde in Deutschland sehr und auf der internationalen Schule fiel er mit seinen Leistungen immer mehr ab. Susanne hatte mit den Eltern geredet, als Sven selbst im Religionsunterricht nur noch wie ein Schatten seiner selbst erschien. Sein Vater und seine Mutter machten sich auch große Sorgen, aber sie hofften doch, dass es eine Pubertätserscheinung sei, die vorbeiginge.
«Hallo, bist du noch da?», Tanja tippte ihrer Freundin auf den Arm.
«Entschuldige, ich musste an Sven denken. Ich habe ihn sehr gemocht, aber keiner konnte ihm helfen. Jedenfalls seine Eltern und ich haben es nicht geschafft.»
«Was war mit Sven?», fragte Tanja.
«Er war ein ganz sensibler Junge, ich kannte ihn aus der Gemeinde, er war in meiner Jugendgruppe. Auf Malta war er unglücklich. Und dann ist er auf einen Chatroom im Internet gestoßen, in dem sich Jugendliche austauschen, die am Leben verzweifeln. Ich glaube, davon haben sie sogar hier in Deutschland berichtet. Sven und ein Mädchen aus Schweden haben sich verabredet. Sie ist nach Malta geflogen, die beiden sind an die Südwestküste gefahren. Auf einem Felsen dort müssen sie noch lange miteinander gesessen und geredet haben, das jedenfalls lassen die Spuren vermuten, die die Polizei gefunden hat. Als das Abendrot kam, ehrlich, es
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