Trauerspiel
klingt kitschig, aber mir treibt es noch heute die Tränen in die Augen, also als die Sonne im Meer versank, sind Sven und das schwedische Mädchen Hand in Hand vom Felsen gesprungen.» Susanne holte tief Luft. «Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich mir Vorwürfe gemacht habe, dass ich dieses Unglück nicht verhindern konnte. Manchmal träume ich jetzt noch davon. Die Beerdigung war eine der schlimmsten, die ich je überstehen musste. Die Eltern brachen völlig zusammen, Svens Vater ist auch nicht auf Malta geblieben, sie konnten den Anblick der felsigen Insel nicht mehr ertragen. Sie haben Svens Leichnam nach Deutschland überführen lassen. Ich glaube, die Ehe der Eltern hat die ganze Sache auch nicht überstanden, das gibt es ja oft nach dem Tod eines Kindes. Svens Mutter hat mir jedenfalls mal geschrieben, dass sie sich scheiden lassen will. Eine ganz dunkle Geschichte war das, für uns alle, aber natürlich besonders für die Eltern.» Susanne stockte. Sie hob den Brief, den sie auf den Schreibtisch gelegt hatte, wieder hoch. «Aber jetzt zu behaupten, ich wäre Sven zu nahe getreten, das ist unglaublich, das ist abartig und gemein.»
«Ich finde, die meisten anonymen Briefe sind niederträchtig», meinte Tanja. «Aber dieser ist auch intelligent, und das macht ihn gefährlich.»
«Wieso intelligent, das ist doch einfach nur mies, schmeiß das Ding in den Papierkorb!», widersprach Susanne.
«Nein, Susanne, denn das, was der Schreiber dir vorwirft, das kannst du nicht widerlegen, stimmt's? Genau das ist der Punkt. ‹Ohne Rauch kein Feuer›, sagt doch das Sprichwort, und gerade damit rechnet der Schreiber. Er will, dass du in Misskredit gerätst, vielleicht weiß er auch um unsere Freundschaft und will einen Keil zwischen uns treiben. Wir sollten diesen Brief nicht wegwerfen, einmal abgesehen davon, dass ich das auch gar nicht darf. Wir sollten uns überlegen, wer ein Interesse daran haben kann, dich zu belasten. Auf jeden Fall bist du in Gefahr, liebe Freundin.»
«Ich? Wieso denn? Wegen meines guten Rufs? Ich hoffe mal, dass das niemand von mir glauben wird!», empörte sich Susanne.
Tanja schüttelte nachdenklich den Kopf. «Täusche dich nicht, Susanne, die Leute hören lieber schlechte Nachrichten als gute, und sie glauben eher das böse Gerücht als die gute Neuigkeit. Am Ende findet jeder, dass du schon immer ein merkwürdig gutes Verhältnis zu jungen Menschen hattest.»
«Was, das wäre ja so was von gemein! Ich fasse doch keine Kinder an!», rief Susanne laut.
«Bin ich Pfarrerin und kenne die Menschen oder bist du es?», fragte Tanja. «Aber in der Tat denke ich, dass unser Anonymus genau das erreichen will: deinen Ruf zerstören. Das ist jedoch nicht das Schlimmste. Am gefährlichsten finde ich, dass er schon einmal gemordet hat.»
«Wie bitte?», schluckte Susanne.
«Ja, ich denke, er hat schon einmal gemordet, mindestens einmal. Ich glaube, dass der anonyme Briefschreiber derselbe ist, der auch den Brief über Julia geschrieben hat. Und dieser Schreiber, so fürchte ich, ist Julias Mörder.»
«Die Schrifttype ist unterschiedlich», meinte Arne. Tanja und Arne hatten die beiden Briefe nebeneinander gelegt, Susanne schaute ihnen über die Schulter.
«Arial 9,5, das ist jedenfalls die Schrifttype bei meinem Brief.»
«Woher weißt du das?», fragte Tanja verblüfft.
«Geheiminformationen», meinte Susanne, die schon ein bisschen von ihrem Humor zurückgewonnen hatte.
«Könntest du bitte versuchen, mich nicht abzulenken?», tadelte Arne. «Also – die Schrifttype der Briefe ist unterschiedlich, aber das will ja im Computerzeitalter gar nichts sagen. Er oder sie wählt sich einfach eine neue Type, fertig. Vom Stil her sind die Briefe auch unterschiedlich. Trotzdem bin ich mir ganz sicher, dass du recht hast, Tanja. Beide Briefe wurden von demselben Menschen geschrieben.»
Tanja runzelte die Stirn. «Mir gefällt das überhaupt nicht. Das bedeutet, dass er oder sie ein sehr intelligenter Mensch ist, und das macht ihn oder sie richtig gefährlich. Was glaubst du, warum er oder sie den Brief über Susanne geschrieben hat?»
Arne überlegte. «Es gibt auf jeden Fall einen Grund dafür», meinte er. «Die Mörderin oder der Mörder will ihren Ruf zerstören, Susanne womöglich aus Mainz vertreiben.»
Tanja überlegte. «Und warum?»
«Er oder sie – sagen wir einfach: der Mörder, und vergessen wir nicht, dass es eine Frau sein könnte, also: er fürchtet Susannes Anwesenheit,
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