Trauerspiel
erquickenden Alpenurlaub sehnte. In der Tat, eine Pause, egal ob lila oder bunt, das wäre es jetzt. Susanne hätte einiges dafür gegeben, es Frau Dr. Daubmann nachzutun, die gerade, ihre schicke Handtasche fest unter den Arm geklemmt, außerhalb der Sichtweite des Dekans aus dem Raum schwebte. Leider saß Dr.Weimann ihr genau gegenüber, so dass sie sich nicht diskret in den Vorraum verdrücken konnte. Dabei schien auch Dekan Weimann der Faszination der Schweizer erlegen zu sein und hätte ihren Fluchtversuch wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Susanne beobachtete, wie ihr Vorgesetzter den Kopf immer mehr nach vorne neigte, ab und an hob er ihn ruckartig an, doch langsam aber sicher verlor sein Haupt den Kampf gegen die Schwerkraft und sackte auf die Brust. Weimanns Fliege wurde zwischen Hals und Kinn eingeklemmt und erlitt unschöne Knicke. Susanne schüttelte den Kopf, das würde dem Dekan gar nicht gefallen. Knitterfalten duldete er auf seinen Sakkos, ja diese waren ohne Beulen oder Flecken nicht zu denken, aber auf sein blütenweißes Hemd und die perfekte Fliege legte er stets großen Wert, das wusste die gesamte Mainzer Pfarrerschaft. Die Konzeptionspapiere der Tagung glitten vom Schoß des Dekans auf den Boden, ohne dass dies Weimann hätte irritieren können. Kräftige Atemzüge zeigten an, dass er sich in helvetisch angeleiteten Träumen verloren hatte.
«Nutzen Sie daher die Pausen, die sich Ihnen bieten!», strahlte der Unternehmungsberater. «Jetzt lade ich Sie ein, Ihre ganz persönlichen ökologischen Visionen in die Gruppe einzubringen. Hier sind Kärtchen, die Sie ganz persön lich beschriften können. Auf die roten schreiben Sie Ihre Befürchtungen, auf die blauen ihre Wünsche.»
Susanne fiel ein ganz persönlicher blauer Wunsch ein, der gewiss für einen Eintrag in ihre Personalakte hätte sorgen können.
«Anschließend», fuhr Herr Grünli fort, «werden wir Ihre Arbeitsergebnisse dokumentieren und für die Kirchenleitung auswerten.»
Susanne fragte sich, wann wohl jemals dieser Tag der Auswertung kommen würde. Vielleicht kurz vor der Wiederkunft des Messias. Aber egal, man sollte die Hoffnung nie verlieren.
«Die Hoffnung stirbt zuletzt», sagte sie unwillkürlich so laut, dass Weimann aus seinem Schlaf aufschreckte.
«Amen», antwortete der Dekan automatisch, und das fand Susanne auch.
* * *
«Sammeln Sie Morde, meine Liebe?», fragte Dr. Daubmann und zog eine Augenbraue hoch. Sie rührte in ihrem Kaffee, trank einen Schluck und schob dann eine Zigarette in eine bernsteinfarbene Zigarettenspitze. «Erlauben Sie? Ich versuche seit 20 Jahren, es mir abzugewöhnen. Das wäre mein ganz persönlicher blauer Wunsch. Irgendwie klappt es nie. Jetzt bilde ich mir ein, mit der Spitze ist es nicht so schädlich. Na ja.»
Susanne stand mit Dr. Daubmann an einem Bistrotisch im Hof des Tagungszentrums. Die beiden Kolleginnen nutzten die Pause, allerdings anders, als die beiden Schweizer es sich vorgestellt hatten. «Kein Problem, schon gar nicht im Freien», meinte Susanne. «Ich bin keine fanatische Nichtraucherin, nur beim Essen stört es mich.»
Dr. Daubmann nickte. «Mich auch. Obwohl, nach dem Kaffee, da gibt's bei mir kein Halten mehr. Zur Not auf dem Balkon, auch bei Schneegestöber.» Sie zündete sich genussvoll ihre Zigarette an und schaffte es wieder, einfach unwiderstehlich elegant und chic auszusehen. «Als ich von dem Mord vor St. Johannis in der Zeitung gelesen habe, da dachte ich, der Gerechtigkeit halber hätte der Mörder die Leiche ja vor der Melanchthonkirche ablegen können. Oder vor der Studentengemeinde, erwürgt mit einem handgestrickten Wollschal des Kollegen Selms. Es muss ja nicht immer Sie treffen.»
Susanne musste lachen. Dr. Daubmann tat ihr einfach gut.
«Aber im Ernst, wie kommen Sie klar? Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, sagen Sie Bescheid.»
Susanne nickte. «Danke, vielleicht gehen wir demnächst wieder einmal essen. Das wäre schön. Am besten ist es, wenn ich nicht dauernd an diese Sache denken muss, und am allerbesten wird es sein, wenn sie den Mörder von Julia fassen. Ich kann mir eigentlich nur vorstellen, dass es ein Mann ist.»
Dr. Daubmann zog nachdenklich an ihrer Bernsteinspitze. «Finden Sie? Ich habe in meinem Leben die Erfahrung gemacht, dass man Frauen nicht unterschätzen sollte. Im Guten nicht, und auch nicht im Bösen.»
* * *
Herr Dr. Kleinknecht, der Direktor von Julias Schule, hatte Tanja und Arne in seinem Dienstzimmer empfangen.
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